Fischerinsel / Petriplatz / Breite Straße

  • Mancher, der im genannten Fall den Begriff des jüdischen Ghettos verwendet, sollte ihn lieber noch einmal recherchieren. Auch wenn es einen Juden gab, der von einem „Ghetto mit offenen Toren“ sprach. Niemand hat dem Ghettobegriff entsprechend im ausgehenden 19. Jahrhundert Juden eingepfercht oder dazu gezwungen, im Scheunenviertel zu leben, und niemand hat ihnen verboten, ihre Geschäfte außerhalb des Scheunenviertels zu betreiben. Diese ganze Begrifflichkeit ist in diesem Kontekt leider vollkommen schief und im allerbesten Fall naiv-landläufig.

    Einmal editiert, zuletzt von Georges Henri ()

  • ^Problem ist, dass der Begriff "Ghetto" doppeldeutig besetzt ist. Einmal gibt es einfach das Viertel welches von einer bestimmten Ethnie/Bevölkerungsgruppe als Minderheit geprägt ist. Ob die sich da freiwillig zusammengefunden haben oder ob es durch die Obrigkeit gesteuert wurde, ist hier irrelevant.

    Und dann gibt es da die Nazi-Ghettos, nichts weiter als großräumige Gefängnisse. Gerade bei Juden überschneiden sich dann diese Begriffsdefinitionen wobei es dann zu Mißverständnissen kommen kann. Das Scheunenviertel kann also auch vor '33 als Juden-Ghetto bezeichnet werden.

  • Mit den Planjes (Ostjuden), die so von den assimilierten Juden in Berlin abschätzig betitelt wurden, bekam das Scheunenviertel eine eigenwillige Mixtur aus vielen Bestandteilen. Es war nicht nur Ghetto, nicht nur Unterwelt, nicht nur billiges Amüsierviertel, nicht nur Zufluchtsort der aus Polen eingereisten armen Juden, nicht nur "Zille-Milljöh". Aber eben auch Ghetto.

  • ^Viel von dem gesagten ist richtig, jedoch finde ich diesen verniedlichenden Gebrauch des Worts Ghetto wirklich unverantwortlich. Er ist auch historisch unbegründet.


    Ich nehme an, dass die Herkunft des Begriffs bekannt ist: Ein Stadtteil von Venedig, der verpflichtender Wohnort war und nach Einbruch der Dunkelheit abgeriegelt wurde. Hierzu gibt es übrigens eine wunderbare mehrteilige BBC-Reportage von Simon Schama 'The Story of the Jews'; ich glaube er besucht das Ghetto und seine Synagoge in Folge 2 ('Among Believers'). Ähnlich verhielt es sich bei der Judengasse in Frankfurt und der Prager Josephsstadt, beides Ghettos. Neben verpflichtenden Siedlungsgeboten gab es auch Ausschlüsse, wie das oben dargestellte Reglement. Die Engländer reservierten sich z.B. Siedlungsgebiete in Irland, währen das kaiserliche Rußland mit seiner Ausgrenzungspolitik (gegenüber Juden) wohl am weitesten ging; die englische Redewendung 'going beyond the pale' bezieht sich immer noch darauf, ohne dass vielen die Herkunft wohl bewusst ist.


    Das Unfreiwillige macht ein Ghetto aus, indem es bewusst auf räumliche Absonderung anhand ethnischer oder religiöser Kriterien abzielt, oder de-facto aufgrund wirtschaftlicher Verhältnisse diese billigend in Kauf nimmt. Das ist der Unterschied zum Shtetl/Städtl. Im Scheunenviertel lebten arme Berliner. Weil viele Juden darunter waren, das Viertel als Ghetto zu bezeichnen, verharmlost den Begriff und zeichnet ein falsches Bild.


    Denn es ist historisch irreführend: Es war die Aufklärung, die der jüdischen Emanzipation und Integration den Weg bereitet hat. Nach seiner Begegnung mit Mendelssohn schuf Lessing 'Nathan den Weisen'. Es folgten die Salons der Varnhagen etc. Das heisst nicht, dass es keinen offenen und latenten Antisemitismus gab, schon der Hungeraufstand von 1923, der ja am Arbeitsamt in der Gormannstr. begann, war so motiviert. Die Logik der Entwicklung, auch des sozialen Städtebaus, war aber gerade in die umgekehrte Richtung als eine Ghettoisierung zuzulassen. Die Nazis haben gerade diese lautere und moderne Motivation benutzt und mit ihrer rassistischen/antisemitischen Polemik verbunden. Das Scheunenviertel wurde zur Vignette nicht tragbarer Zustände, überbelegte Wohnungen, soziales Elend, was Kontinuität lauterer Motive suggeriert, aber nur ein Deckmantel für weitaus sinistre Absichten war.

  • ^ Ich glaube, wir sind nicht allzuweit auseinander. Ich kann Deiner Darstellung weitgehend folgen – nur in dem Punkt nicht, dass Du den (durchaus noch ghettohaften) Zwangscharakter der jüdischen Ansiedlung in dem Viertel, den sie zumindest im 18. Jahrhundert hatte, nicht erwähnst. Dieser Zwang betraf nicht die Mendelssohns oder die Varnhagens, aber die Juden ohne Grundbesitz, und ohne ihn hätte es die spätere, freiwillige Ansiedlung in der Gegend nicht gegeben.


    Das Verhältnis der Aufklärung zum Antisemitismus war übrigens keineswegs ungetrübt. Auf der einen Seite stand die Emanzipationsbewegung, da hast Du recht. Zeitgleich vollzog sich aber auch der Wandel des überlieferten Antijudaismus zum modernen Antisemitismus – siehe Treitschke & Co. Auch ich empfehle ein Buch: "Grenzen der Aufklärung" von Detlev Claussen (einem Adorno-Schüler).

  • ^Ich nehme an, dass Du Dich auf die Kabinettsordre vom Okt. 1737 beziehst. Mit dieser Drangsal hatte es aber eine andere Bewandtnis: „Die Soldaten hatten sich über ihre unsauberen Quartiere in den Baracken zwischen Königs- und Spandauer Tor beklagt, solchen Klagen musste abgeholfen werden. Man zwang daher die Juden, die keine eigenen Häuser besaßen, aus ihren Mietswohnungen auszuziehen, dieselben ohne Entschädigung den Soldaten zu überlassen, und sich in den Häusern hinter der Mauer und in den von den Soldaten verlassenen Baracken nach einem von der Regierung willkürlich gesetzten Preise einzumieten.“ (L. Geiger: Geschichte der Juden in Berlin, Berlin 1871, S.49) Es handelte ohne Zweifel um eine willkürliche Zwangsmaßnahme, jedoch nicht um die Anlage eines Ghettos, da der Verbleib dort nicht verpflichtend war, und das Gebiet zwar das Scheunenviertel beinhaltet aber nicht mit diesem identisch ist. Die behauptete Kontinuität („ohne ihn hätte es die spätere Ansiedlung nicht gegeben“) bestand so nicht. Es bestand aber Kontinuität in offenen und latenten Antisemitismus im Allgemeinen und Speziellen.

  • In diesem Strang geht es nicht ums Scheunenviertel, sondern um die Fischerinsel. Ich will eigentlich kein Forums-Polizist sein, aber vielleicht wollt ihr die Diskussion in einem passenderen Strang durchführen.

  • Die Fischerinsel mit Reichs- und Hansestädten zu vergleichen gelingt wohl nur Dir werter Architektur-Fan.

    Der Vergleich ist statthaft.


    Ob es sich bei den genannten Altstädten um ehemalige Reichs- und Hansestädte handelt, ist bei der Frage der früheren hygienischen Zustände (Stichwort "rattenverseucht") doch eigentlich irreleveant. Entscheidend für einen Vergleich der Fischerinsel mit den genannten Altstäden (oder zumindest Teilen davon) sind vielmehr zwei Kriterien:


    1. Kriterium ist die städtebauliuche Dichte.

    2. Kriterium ist die Nähe zum Wasser.


    zu 1.) Die Fischerinsel hatte zweifelsohne eine hohe städtebauliche Dichte, durchaus vergleichbar mit Altstädten wie Regensburg oder Lübeck.

    zu 2.) Die Fischerinsel ist an drei Seiten von Wasser umgeben. Die genannten Altstädte lagen ebenfalls in unmittelbarer Nähe zu Wasserflächen bzw. Gewässern. Die Altstadt von Regensburg liegt an der Donau. Die Altstadt von Bamberg liegt an der Regnitz. Die genannten Hansestädte liegen in unmittelbarer Küstennähe.

  • ... Und heute gehören diese Altstädte zum Weltkulturerbe der UNESCO.

    << Das mein lieber Architektur-Fan war die entscheidende Passage deines Posts in dem du die Fischerinsel mit den Zentren von Regensburg, Quedlinburg, Lübeck etc, gleichgestzt hast. Immer schön beim Leisten bleiben.

    Aber wahrscheinlich hälst du die ursprüngliche Fischerinsel auch für UNESCO-Weltkulturerbewürdig.

  • In der Gesamtheit der Berliner Altstadt mit Museumsinsel, Schloss, Nikolai- und Klosterviertel sowie Petriviertel wäre auch die Fischerinsel heute heute vermutlich UNESCO Welterbe, ohne ihre Vernichtung durch Krieg und DDR.

  • Kurze Reminiszenz an den ‚rattenverseuchten Slum‘ 🤗


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    1953: Ansicht Friedrichsgracht, aus der Unterwasserstr. fotographiert. Quelle: Bundesarchiv, Bürger.

  • Es ist immer wieder erschreckend zu sehen, dass so viel alte (und schöne) Substanz den Krieg überlebt hatte, um dann der nächsten menschenfeindlichen Aktion zum Opfer zu fallen. Und diese Nachfolge-Brutaloarchitektur wird dann heute noch behandelt, als sei sie sakrosankt.

  • In diesem Zusammenhang sollte man aber nicht aus dem Blick verlieren, dass auch ohne Krieg und DDR ein großer Teil der Berliner Altstadt heute nicht mehr existierte, da bereits in den 20er und 30er Jahren konkrete Vorstellungen einer Neubebauung bestanden. Ich verweise hierzu auf das Buch "Mitte! Modernisierung und Zerstörung des Berliner Stadtkerns von 1850 bis zur Gegenwart" von Benedikt Goebel [beim lokalen Buchhändlern erhältlich].


    Bei der Vehemenz, mit der hier immer wieder auf die DDR-Verantwortlichen eingedroschen wird, frage ich mich, ob diejenigen den selben Rochus auf die Entscheider von vor 100 Jahren haben oder es sich letztlich eher um Antikommunismus dreht...

  • Bei der Vehemenz, mit der hier immer wieder auf die DDR-Verantwortlichen eingedroschen wird, frage ich mich, ob diejenigen den selben Rochus auf die Entscheider von vor 100 Jahren haben oder es sich letztlich eher um Antikommunismus dreht...

    Liebe WolkeEins,

    ich störe mich genauso an den Fehlern, die in der Nachkriegszeit in westdeutschen Städten veursacht worden sind. Du kannst also beruhigt sein, dass es kein reines DDR-Bashing ist. Ein Pendant zur Fischerinsel - wegen der Hochhäuser - wäre das Hansa-Viertel in West-Berlin. Ich finde das Hansa-Viertel genauso furchtbar wie die Fischerinsel!

  • ... es ist immer das gleiche Verhaltensmuster. Jemand postet ein altes Foto, Gebaüde und Details sind nicht sehr gut zu erkennen, hauptsache es ist alt und somit gut. Die treue und ewig gleiche Gemeinde der Rekonstruktionfetischisten stimmt ein lautes Wehklagen an und wer das nicht tut ist der Feind schlechthin. Ich empfinde diese Menschen nicht als Feinde aber sie haben mein ganzes Mitleid, Ihr Leben in dieser Stadt muss die reinste Qual sein. Ständig mit schrecklichen modernen Gebäuden konfrontiert.... wo doch so schöne alte zuvor dort standen. Ich glaube das nennt man Stadtentwicklung, im Gegensatz zu Stillstand oder gar schlimmeren.


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    Foto von mir.

  • @ Wolke Eins: Ich glaube, dass Du die Dinge hier überinterpretierst.


    Im Falle der Fischerinsel sieht man heute nun mal "DDR-Architektur". Wenn man diese -- bzw. vielmehr die dafür notwendige Zerstörung alter Gebäude -- in einem Diskussionsstrang zu ebenjener Fischerinsel kritisiert, entschuldigt man damit nicht die Zerstörung anderer alter Gebäude durch andere Verantwortliche. Ich persönlich würde übrigens die Fischerinsel so lassen, wie sie ist, weil sie mich als relativ gut abgegrenztes Ensemble weniger stört als wenn man versucht, mit moderner (oder rekonstruierter) Architektur da irgendwie noch alte "Strukturen" reinzubringen. Das wird nie zu einem Ergebnis führen, das irgendjemand als anziehend empfinden wird. Ich hätte auch das Ahornblatt nicht abgerissen.


    Ost und West geben sich in der Zerstörung alter, erhaltenswerter und -fähiger Gebäude absolut nichts. Ich bin in einer westdeutschen Großstadt aufgewachsen, die noch heute unter der Zerstörungswut der Nachkriegsgeneration leidet und von einem absoluten Schmuckstück zu einem ziemlich häßlichen Ort degradiert wurde, wobei man auch die Vision der autogerechten Stadt besonders brutal angegangen ist. Wir sollten uns alle den Geist der Nachkriegsjahre zur Mahnung nehmen (wobei man die 50er Jahre teilweise dadurch entschuldigen kann, dass man in möglichst kurzer Zeit möglichts viele Wohnungen schaffen musste und keine Zeit und Mittel hatte, lange zu diskutieren und Altes sorgfältig wiederherzustellen).


    Ich glaube das nennt man Stadtentwicklung, im Gegensatz zu Stillstand oder gar schlimmeren.

    Gegenüber der Gegenposition ist das entweder aggressives Missverstehen oder Unfähigkeit zur Differenzierung. Beides sehr betrüblich.

  • Danke für die ausgewogenen Reaktionen. Ich will hier auch nicht als Verteidiger der SED-Abrissmanie rüberkommen. Es erfüllt mich mit großer Traurigkeit, wenn ich sehe, was alles für die autogerechte Stadt in Ost und West geopfert wurde.

    Wie Llewelyn sehe ich es auch so, dass die Bebauung der Fischerinsel eher so bleiben sollte wie sie nunmal ist, statt dort jetzt eher uninspirierte Blockrandkisten reinzuquetschen. Die Punkthochhäuser bräuchten meines Erachtens dennoch ein Facelifting und vor allem das Umfeld eine signifikante Aufwertung.

  • Llewelyn

    ... weder noch. es ist eigentlich ganz einfach. so wie die jetzt lebenden 3 Generationen den Geist des Städtebaus des Wiederaufbaus der 50er und 60er Jahre verabscheuen und verdammen, hat die Generation des Wiederaufbaus den muffigen Geist des Kaiserreichs und seiner historisierenden Auswüchse verabscheut. Beiden liegt ein Kulturbruch durch 2 verlorene Kriege und als letzten Akt, dem verschwinden eines zu großen Teilen verhassten Teilstaats, zugrunde. Ich finde dererlei vehemente Ablehnung ganzer Stilepochen und gleichzeitiger Rauschhafter Vergötzung von Vergangenem eigentlich nur in Deutschland so krass ausgeprägt vor. Das hat auch nichts mit einem allgemeinen Schönheitsideal zu tun, das hier immer wieder apostrophiert wird. Das steckt viel tiefer und ist eher ein Fall für einen Volksseelen-Therapeuten.

  • ^ Gerade von dir kommt doch jedes mal derselbe verbale Brechreiz, wenn man z.B. die Patzschkebauten in der Klosterstraße auf einem Fotos am Rande sieht.


    Wo nichts verloren ist, kann man diesem auch nicht nachtrauern. Logisch, oder? Wenn man Paris Le Corbusier überlassen hätte, ginge es den Parisern sicher auch nicht anders, als manchen hier in diesem Fall. Jaja, jetzt kommst du wieder mit Äpfel und Birnen, weil ein mal bereits beschädigt und ein mal einfach so plattgemacht. Spielt letztendlich aber keine Rolle, weil es eben in beiden fällen weg ist und durch unurbane, aus der Theorie entstandenen Strukturen ersetzt.


    Man kann auch einfach mal vor einem Gebäude/einem Ensemble stehen und sich denken "Find ich gut/schlecht" ohne sich gleich wissenschaftliche Analysen durch den Kopf gehen lassen zu müssen.