^ Das Problem an dem Fortschritts-Argument ist, dass es Ludwig XIV. als Maßstab heranzieht und damit anderthalb Jahrhunderte überspringt, in denen viel passiert ist: Aufklärung, französische Revolution, Napoleon, Restauration, Industrialisierung, Verfassungsdebatte(n) im Vormärz. Ludwig XIV. lebte noch in einer weitgehend feudalen Gesellschaft und wollte mit dem Gottesgnadentum seinen Herrschaftsanspruch gegenüber dem Adel durchsetzen. FW IV. lebte in einer bürgerlichen Gesellschaft und hatte seinen Herrschaftsanspruch gegen liberale Intellektuelle, eine aufsteigende Bourgeoisie und (später auch) gegen ein wachsendes Proletariat zu verteidigen.
Bald nach dem Wiener Kongress war es in gebildeten, deutschen Kreisen eigentlich Konsens, dass es ein Zurück hinter die napoleonischen Reformen (Verfassungen, Code civil) nicht geben dürfe – dass sich Herrschaft (auch die eines Königs) nicht über Gott, sondern über eine Verfassung zu legitimieren habe (nicht unbedingt eine demokratische Verfassung, das kam später, aber über eine Bindung ans Recht). Die deutschen Monarchen wehrten sich gegen diese Einschränkung ihrer Souveränität (die preußischen am heftigsten); die Liberalen kämpften dafür. Das berühmteste Beispiel ist sicher der Streit zwischen dem König von Hannover und den Göttinger Sieben – und das war 1837.
FW IV. nun kämpfte den Kampf um seine Macht, indem er die Bindung seiner Dynastie an Gott betonte. Er wollte das längst überholte Gottesgnadentum als Legitimationsmodell wiederbeleben, indem er etwa das Stadtschloss mit bekreuzter Kuppel, Kapelle und Spruchband ausstattete. Der vermeintlich romantisch-schrullige Religionsbezug hatte eine knallhart-machtpolitische Dimension. Und das war auch den Zeitgenossen klar. Als Beispiel hier ein Auszug aus Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen – das lyrische Ich reist von Frankreich aus in die preußische Westprovinz, erlebt Zensur, Frömmelei und Rückständigkeit, spottet über Mittelalter-Romantik. Zum Anblick preußischer Soldaten mit Pickelhaube schreibt er:
Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt
Vom allerhöchsten Witze!
Ein königlicher Einfall war's!
Es fehlt nicht die Pointe, die Spitze!
Nur fürcht ich, wenn ein Gewitter entsteht,
Zieht leicht so eine Spitze
Herab auf euer romantisches Haupt
Des Himmels modernste Blitze! – –
Das "romantische Haupt" gehört FW IV., das Gewitter ist die dräuende Revolution. Heine schrieb das 1844 – vier Jahre später war es soweit. Hätte FW IV. um 1700 regiert, wäre er in der Tat seiner Zeit voraus gewesen. Er regierte aber um 1850, und zu dieser Zeit war er im Wortsinne ein Reaktionär.
Eine ausführlichere Analyse dazu gibt es auf der Seite des Humboldtforums.