Reko vs moderner Neubau - Vom einen zu wenig, vom anderen zu viel?

  • Was mich immer wieder fasziniert, ist die Selbstreflexion der Beteiligten. Nachdem es allein im 20. und begonnenen 21. Jahrhundert in Europa mehrere hundert Rekonstruktion gegeben hat, besteht ein gewisser Erfahrungsschatz mit diesem Thema.


    Fast immer hat es die Mahner gegeben, die eine moderne oder hybride Interpretation vorschlugen und die Rekonstruktion als "Geschichtslüge", "Disneyland" oder anderweiteiger revisionistischer Strahlkraft bezichtigten. Nach Fertigstellung der Reko ist es regelmäßig still geworden, ein Fall von reclamatus ex post, also dem Protest nach Fertigstellung, ist nicht bekannt. So ist es z. Zt. in Potsdam, wo selbst die größten Kritiker den Schloßbau loben - um zeitgleich die nächste anstehende Rekonstruktion mit den gleichen Argumenten zu geisseln, die sich eben gerade als falsch erwiesen haben.

  • Architektur-Fan
    Letztendlich sind sie das wohl, allerdings sind diese anders zu bewerten.

    Aber die Beispiele des Römers, wenn du den frühen Wiederaufbau nach dem Weltkrieg meinst, Dresden (ich denke du meinst die Frauenkirche und die halte ich für einen Sonderfall) kam verspätet durch die besonderen Umstände der Teilung, wie auch die Münchener Residenz zum Beispiel - und es gab viele andere Wiederaufbauten in Deutschland - waren einfach Ausdruck einer überwiegenden Mehrheit der lokalen Bevölkerung nach 'Heilung' von schwer zu verkraftender Zerstörung im II Weltkrieg und ist meiner Meinung nach anders zu beurteilen als heutige Diskussionen über Rekonstruktionen. Das damals war existentiell und elementar wichtig für die Stadtgesellschaft und Teil des Prozesses einer Normalisierung und von daher absolut nachvollziehbar.

    Ich denke diese Wiederaufbauten direkt oder relativ nahe nach dem II Weltkrieg muss man anders bewerten als heutige Diskussionen.
    Verglichen mit damals sind das heute reine Phantomschmerzen, wenn Rekonstruktionsbefürworter von Wunden und Verletzungen unserer Städte sprechen, - die meisten haben die Originalgebäude niemals gesehen und für mich ist nun mal persönlichen Bezug unerlässlich um Verlust zu empfinden.


    Heutige Rekonstruktionen sehe ich persönlich als wenig hilfreich an, um Verletzungen zu heilen, Identifikation zu stiften oder andere hehre Ziele zu erreichen, ich halte sie eher für Ausdruck von Stillstand und Resignation, unechter Ästhetik und letztendlich täuscht man sich selbst, aber das empfindet jeder anders und viele wollen sich vielleicht auch nicht weiter damit auseinandersetzen. Auch das beinhaltet Populismus, nebenbei angemerkt.


    Es gibt glücklicherweise nach wie vor eine Menge originaler Gebäude in Berlin und Deutschland, die meinen Bedarf an Orientierung, Erinnerung, Ästhetik usw. hervorragend Genüge leisten können.
    Neues 'Altes' gehört nicht dazu.

  • Konstantin


    Das heißt nichts anderes als die Macht des Faktischen anerkennen oder auch Pragmatismus.
    Eine wie von Dir verklärte nachträgliche insgeheime Anerkennung kann ich ehrlich gesagt darin nicht erkennen.

  • Ich sprach nicht von "insgeheimer Anerkennung" sondern von ganz offener. Was Potsdam betrifft war ich jüngst bei der Präsentation der Magisterarbeit von Herrn Tomczak (Sprecher der Initiative Kulturlobby, sachkundiger Einwohner i.A. der Wählergruppe DIE aNDERE im Ausschuss für Stadtentwicklung, Bauen und Verkehr der LH Potsdam, stadtentwicklungspolitischer Sprecher der Wählergruppe), der vor linkslalternativem Publikum das Potsdamer Stadtschloß in seinen städtebaulichen Qualitäten pries. Sogar sein Professor Buttlar sekundierte, um danach die nächste geplanten Rekos der Potsdamer Mitte anzugreifen. Putzig.

    3 Mal editiert, zuletzt von Konstantin ()

  • Medien und Öffentlichkeit entwickelten aber schnell Druck auf die Planer und riefen nach dem, was ich die Puppenstubenvariante eines Mittelalter-Stadtkerns nennen würde.


    Diesen "Puppenstuben"-Unfug kann ich nicht mehr lesen - wie oft muss man noch erklären, dass es ganz normale Häuser sind, in die durchaus lebendige Menschen passen? Es mag sein, dass es keine anderen Gegenargumente gibt, als die Projekte mit dem "Puppenstubentum" zu beschimpfen, doch es ist inzwischen denkbar ausgelutscht.


    Was für eine "Tragödie" ist in Frankfurt passiert? Ungefähr ein Hektar wird gestaltet, wie es offenbar sehr vielen Menschen zusagt. Wer eher Großstrukturen mag, findet diese in Frankfurt ebenfalls, jede Vorliebe wird bedient. Wieso manche Leute mit der städtebaulichen Vielfalt nicht leben können, wird mir auf ewig ein Rätsel bleiben.


    Im Ergebnis wurden immer mehr Häuser "historisch" gestaltet, und nur noch wenige moderne dürfen sich verschämt dazwischenquetschen. Ich finde, hier wurde eine Chance verpasst, schade.


    Die historisch gestalteten bleiben meiner Schätzung nach in der Minderheit und die anderen sind zu oft gestalterisch minderwertig, siehe etwa hier ab #559 - wenn Chancen verschenkt werden, dann vor allem durch solche halbherzige "moderne" Gestaltungen. Besser guter Nachbau als misslungener Versuch.


    Es gibt übrigens noch sehr viele Chancen, da ein Großteil der Frankfurter Altstadt mit Zeilenbauten der 1950er Jahre zugebaut wurde - die zunehmend hinterfragt werden. Es bleiben noch viele Standorte für misslungene Architektenversuche übrig.

  • Der Wunsch nach dem Schlossbau als Totalrekonstruktion war reiner Populismus und repräsentiert den Ausdruck von Einigen einer diffusen Sehnsucht nach einer heilen Welt mit Schloss und der Illusion damit in dieser zerstörten und zerrütteten Stadt einen Fixpunkt zu schaffen, der das Gefühl von Identität wiederherstellt, so sehe ich das jedenfalls, das gleiche gilt im übrigen für die ganzen anderen Rekonstruktionen die angestrebt werden, ja selbst für den ganzen seichten Historismus, mit dem wir überschwemmt werden. Auch wenn es viele - gerade die Freunde traditioneller Architektur - bestreiten. Architektur ist keine Geschmacksfrage sondern viel mehr. Darin offenbaren sich Grundüberzeugungen und Wesensmerkmale von Menschen, die weit über das oftmals angeführte Argument der Ästhetik und des Geschmacks hinausreichen


    Das sind ja markige Worte. Klingen recht elitär, als ob jemand genau wüßte, wohin es architektonisch und städtebaulich gehen sollte.


    Wenn eine Stadt kaputt ist, sollte man sie auch wieder (modifiziert) heilmachen. Jedenfalls ist dieser Wunsch legitim und kann nicht pauschal abqualifiziert werden, wie dies immer wieder geschieht.


    Ich werde leider nicht mit seichtem Historismus überschwemmt. Da könnte Berlin noch viel mehr vertragen.


    Dein Geraune von der unermeßlichen Tragweite von Architektur solltest du mal genauer erklären. Willst du damit etwa sagen, daß wir durch den Schloßbau den Feudalismus wiederbeleben oder die Demokratie verneinen?


    Ich kapiere diese paranoiden und völlig willkürlichen Argumentationsmuster nicht. Es sind die Hirngespinste von Traditionsgegnern, wie man sie auch bei Georg Diez findet. Ich finde diese Argumentationen offen gesagt widerlich.


    Man kann gerne gegen Tradition oder das Schloß sein. Man sollte doch aber bitte mit diesen willkürlichen Denunziationen und politisch-sozialen Phantasmagorien aufhören. Man kann den Schloßbau und weitere Rekonstruktionen genauso gut als Gesundung der nationalen Volksseele betrachten, also als eine positive Entwicklung.


    Man entschuldige bitte meinen Humor, aber ich karikiere gerne die antideutsche Gesinnung in manchen linken Kreisen.


    Es lebe das Heilige Deutschland!

  • Diese Argumentation ist genuin patriotisch, da sie in der Tradition eines feinen, nachdenklichen Verfassungspatriotismus der späten, alten BRD eines Richard von Weizsäcker steht. Dieser Patriotimus hat Deutschland am weitesten in seiner Geschichte vorangebracht. Es ist kein Hurra-Patriotismus, sondern einer der Kompromisse und Zwischentöne und daher nicht für den Populismus geeignet.

    Einmal editiert, zuletzt von Tomov ()

  • Diese Argumentation ist genuin patriotisch, da sie in der Tradition eines feinen, nachdenklichen Verfassungspatriotismus der späten, alten BRD eines Richard vom Weizsäcker steht.


    War er nicht zufällig ein Befürworter des Wiederaufbaus? Etwa hier ergoogelte ich, dass er vor knapp drei Jahren dabei war, als seine Frau eine Rose Berliner Schloss taufte, was irgendwie den Wiederaufbau fördern sollte.


    Was wiederum eventuelle Marxisten angeht (im real existierenden Sozialismus habe ich keine erlebt) - immerhin hat Honecker in den 1980ern den Alten Fritz wieder unter die Linden gebracht und das Marienviertel wiederaufbauen lassen. Hätte die DDR länger überlebt, wäre er wahrscheinlich flexibel genug, auch das Schloss wiederaufbauen zu lassen - wie es etwas früher in Warschau/Polen unter der PVAP geschah. Selbst wenn sich jemand als Marxist begreifen sollte, grundsätzlich schliesst dies einen Wiederaufbau der Königsschlösser und sonstiger -Denkmäler nicht aus.

  • War er nicht zufällig ein Befürworter des Wiederaufbaus? Etwa hier ergoogelte ich, dass er vor knapp drei Jahren dabei war, als seine Frau eine Rose Berliner Schloss taufte, was irgendwie den Wiederaufbau fördern sollte.


    Ja, genau, vor dem Kompromiss steht die eigene Position und das Verstehen der gegnerischen.

  • @Bau-Lucifer


    Du meinst wohl das Nikolaiviertel. :)


    Tomov soll mal erklären, welche Position genau verfassungspatriotisch sei.


    Mich stören diese willkürlichen Zuschreibungen zu architektonischen Vorhaben oder Vorlieben. Egal ob man das jetzt so oder so etikettiert.


    Vielsagend finde ich, daß vornehmlich Modernisten mit diesen willkürlichen Denunziationen arbeiten, also auf eine politische Ersatzebene wechseln und hier groß herumraunen - weil sie ihre Felle davon schwimmen sehen.


    Schlimm finde ich ja, daß man überhaupt noch groß intellektuell und akademisch begründen muß, warum die Menschen sich nach der Tradition und Wiederherstellung zerstörter Strukturen sehnen. Das ist fast so, als würde man angesichts der allgemeinen Verblödung durch die Gender-Ideologie und den Geschlechtsrelativismus lang und breit erklären, warum es nur zwei Geschlechter geben kann und warum diese verschieden sind.


    Beides sind emotionale Selbstverständlichkeiten. Es ist völlig logisch, daß man schmerzliche Verlustgefühle angesichts der zerstörten deutschen Städte hat, auch wenn man die zerstörten Strukturen selbst nicht zu Gesicht bekommen hat.


    Es ist einfach nur irre, daß man das überhaupt erklären muß. Eine andere Frage ist es gleichwohl, wie man diese Wunden nun genau schließt und heilt.


    Das Absurde ist ja, daß die Waschzwangmodernisten ja völlig recht haben mit ihrem Diktum, daß die Zeit fortgeschritten ist, die Vergangenheit nicht wieder zurückzuholen ist etc. Genau deshalb werden ja auch die einst zerstörten Originalstadtviertel an heutige Bedürfnisse angepaßt und nicht eins zu eins wiederhergestellt.


    Oder anders ausgedrückt: Man kann auch einen Gegenwartsfundamentalismus betreiben.

  • ^ Wenn sich die Menschen tatsächlich, wie Du schreibst, nach "der Tradition" und der "Wiederherstellung zerstörter Strukturen sehnen" würden, gäbe es keinen Widerspruch und damit keine Begründungsnotwendigkeit, ja für Dich nicht einmal die Notwendigkeit für Deine Gefühls- und Meinungsbekundungen ("schlimm finde ich", "es ist einfach nur irre", "das Absurde ist ja"). Deine Bekundungsfreudigkeit ergibt sich also daraus, dass sich offenbar gerade nicht alle Menschen gleichermaßen nach "der Tradition" und der "Wiederherstellung zerstörter Strukturen sehnen".
    Wenn man sich nicht in die jeweils eigenen Gefühls- und Meinungsbekundungen einigeln will, muss man sich, wie dies Tomov und Theseus532 getan haben, schon auf jene Begründungsnotwendigkeit einlassen, die Du "schlimm" findest, und die eigene Position mit Argumenten statt mit Emotionsbekundungen verfechten.

  • Deine Bekundungsfreudigkeit ergibt sich also daraus, dass sich offenbar gerade nicht alle Menschen gleichermaßen nach "der Tradition" und der "Wiederherstellung zerstörter Strukturen sehnen".


    Vielleicht - es sind jedoch so viele, dass es etwa in Frankfurt einen Öffentlichkeitsdruck in die Richtung einiger Rekonstruktionen geben konnte, wie darüber dargelegt. Es geht auch nicht um historische Bebauung der ganzen Stadt, sondern nur das Schloss (ohne Ostfassade, leider) und ganz wenige Hektar des MEF-Areals auf der anderen Spreeseite, insgesamt nicht mal 0,1% des Stadtgebiets. Falls jemand etwa auf Plattenbaugroßsiedlungen steht, wird er/sie noch einige Jahrzehnte viel größere Ensembles finden können.


    Nach wie vor fehlt jegliche Erklärung für die Missgunst, wieso man gerade altstädtische Gassen mit entsprechenden Bauten nicht erleben darf, wenn man es möchte - was viele Leute ab und zu gerne tun. (Nicht zwingend als einzige Ensembles, wo man sich wohlfühlt - selber lege ich manchmal meinen Büroweg ein wenig durch die nahe Altstadt und mal durch die Königsallee mit sichtbarer Skyline am Südende - beide würde ich nicht missen wollen. BTW: Am Nordende der Kö laufe ich dann am Kö-Bogen vorbei.)

  • Das ist ja wie auf ZON hier, voll von "Populismen", "diffusen Gefühlen", "Verfassungspatriotismus" etc. Fehlt eigentlich nur noch "ewiggestrig", dann kann man die Kommentare unter jeden x-beliebigen Artikel setzen, der in irgend einer Art und Weise (gesellschafts)politische Themen berührt. Zu schade, daß zeitgenössiche Architektur derzeit so unterirdisch ist. Ich würde mich zu gerne auf die Seite der Progressiven und Gerechten schlagen und noch etwas selbstgefälliger rumpöbeln, als ich es ohnehin schon tue.

  • Was ist denn "ZON". Sorry, aber anscheinend stehe ich da auf dem Schlauch... :confused:

  • ^ Wenn sich die Menschen tatsächlich, wie Du schreibst, nach "der Tradition" und der "Wiederherstellung zerstörter Strukturen sehnen" würden,


    Das tun Sie doch. Es sind sämtliche Rekonstruierten Projekte oder die Wiederherstellung von gewachsenen Strukturen durch die Bank ein Erfolg gewesen.
    Viele Neubauten hingegen gelten als sehr häßlich und sogar das Wort "Bausünde" wurde extra deswegen erfunden um einen Begriff für die Fehler die gemacht wurden zu haben.

  • ^ Es ist ja nicht so, dass sich die gesamte Bevölkerung Gedanken über Architektur macht und darüber diskutiert. Es wird mit den Füßen abgestimmt und so kommt ja z.B. niemand auf die Idee Kassel wegen seiner schönen Innenstadt besuchen (Wenn dann wegen irgendwas anderem).
    Aber ein kleiner Teil der Bevölkerung macht sich Gedanken und diskutiert darüber (z.B. hier im Forum) und da gibt es solche und solche.

  • Man muß ja gar nicht die Architektur von Kassel, Dortmund oder Berlin-Gropiusstadt bemühen.
    Es genügt danach zu schauen, welche Objekte von den Menschen fotografiert werden.


    Als Fotomotive gibt es durchaus auch moderne Architektur. Den Fernsehturm zum Beispiel. Oder den Potse.
    Spitzenreiter sind jedoch historische Bauten und Rekonstruktionen. :daumen: