Landflucht und Verstädterung - und wieder zurück?

  • Der seit 30 Jahre immer stärker zunehmende "Brain Drain" vom Land in Richtung Städte ist ein ökologischer Innsinn ...

    Warum ist es Ökologischer Unsinn? Städte sind grundsätzlich wesentlich effizienter als das leben auf dem Land. Ich glaube die Urbanisierung und smarte/grüne cities sind ein Großes Werkzeug gegen die Klimaerwärmung.

  • Ich denke: In der Stadt könnte man wesentlich effizienter leben als auf dem Land.


    In den Städten benutzten die Menschen zwar mehr öffentliche Verkehrsmittel und Taxis, aber Stadtbewohner reisen weit mehr mit dem Flugzeug als die Bewohner von ländlichen Gebieten.


    Stadtbewohner geben auch mehr Geld für Wartung, Haushaltsgeräte, Möbel etc. aus als Bewohner in den ländlichen Gebieten, da sie im Durchschnitt über ein höheres Einkommen verfügen.


    Trotz weit energieeffizienter Gebäude und kleinerer Wohnflächen sowie besserer öffentlicher Verkehrsmittel führt "zusätzlicher Konsum" von Stadtbewohnern oft zu erhöhten Treibhausgasemissionen. Menschen in der Stadt nutzen häufiger Dienste, die sie bereits zu Hause haben.

    Zum Beispiel, Essen gehen in Restaurants, die geheizt werden, während Energie auch verwendet wird, um die eigene Wohnung zu beheizen.

  • Die politische Spaltung zwischen Stadt und Land hat uns bereits Brexit und Trump beschert, eine weitere Verschärfung dieses Trends wäre nicht wünschenswert.

    Das ist im Fall USA zu einfach. Sicher verstärkt die Urbanisierung den Effekt, doch politische Polarisierung und krasse Gegensätzlichkeiten prägen die USA seit ihrer Gründung, gehen zurück auf unterschiedliche kolonial-kulturelle Einflüsse und die z.T. völlig entgegengesetzt denkenden protestantischen Kolonisten, deren Kulturen die Staaten bis heute prägen. Trump hat aus Gründe gewonnen, die sich allesamt in der amerikanischen Geschichte wiederfinden, das mancher Orts starke Stadt-Land-Gefälle ist da nur ein Grund von vielen.


    Der seit 30 Jahre immer stärker zunehmende "Brain Drain" vom Land in Richtung Städte ist ein ökologischer Innsinn und trägt zur starken politischen Polarisierung vieler Gesellschaften bei.

    Politische Polarisierung vermutlich ja, ökologischen Unsinn kann ich nicht wirklich nachvollziehen.

  • Ökologischer Unsinn ist besonders das Pendeln des PKW-Verkehrs vom Land in die Stadt (oder auch von Stadt zu Stadt), welches nun durch das Home Office Modell wesentlich effizienter gestaltet werden kann. Ebenso ist die ewige Ausbreitung von Städten nicht sinnvoll (samt Versiegelung und Reduzierung von Grünflächen), wenn die öffenltiche Infrastruktur austeritätsbedingt nicht mitwächst (man sehe den erheblichen Rückstau an ÖPNV-Investitionen oder auch Strassenarbeiten im Rhein-Main Gebiet). Besonders die Hitzewellen im vergangenen Jahrzehnt sollten Warnbeispiel genug sein, dass der Feinstaub und CO2-Werte in den Städten (auch in Frankfurt) sich eher verschlechtert als verbessert haben. Es ist auch kein Wunder, dass seit Jahren im jeden Sommer ein breites öffentliches Grillverbot in Frankfurt verhängt wird und viele veraltete PKWs aus den überlasteten Innenstädten verbannt wurden.


    Um mal auch den Blick über den Tellerrand zu wagen: Das Zusammenferchen von zu vielen Menschen in Städten birgt enorme Risiken wie auch am Nightmarket in Wuhan zu sehen (und zuvor in Guangzhou mit SARS im Jahr 2002), bei denen Tiere gehalten werden, die in Städten nichts zu suchen haben. Das viel zu enge Aufeinanderleben in vielen Großstädten ist geradezu ein gefundenes Fressen für Pandemien. Das heisst nicht, dass Städte abgeschafft werden sollen, aber es heisst, dass viele Städte viel zu schnell im Zuge der Hyper-Globalisierung gewachsen sind und die ökologischen / gesundheitlichen Auswirkungen uns nun immer wieder einholen.


    Noch ein Wort auch zu unserem stadtplanerischen Vorbild der USA und dessen Maxime der autogerechten Stadt: Wer das "Clustering" in Städten und Gewerbegbieten befürwortet, ist oft sehr schnell beim großen Vorbild und Zentrum der Weltwirtschaft "Silicon Valley". Wer Silcon Valley aber mal besucht hat, muss konstatieren, dass die Gegend im Stau und Smog erstickt, ein effizientes Vorankommen überhaupt nicht gewährleistet ist und der öffentliche Personen-Nahverkehr komplett überfordert ist. Zudem steigen die Immobilienpreise in der Bay Area und San Francisco in solche Höhen, dass immer weitere Wege zurück gelegt werden müssen um zur Arbeit zu gelangen. Das enge Aufeinanderleben fordert die Wasserknappheit bzw. Dürre geradezu heraus und ist einer der Auslöser der schlimmen Waldbrände, die wir jedes Jahr in Nordkalifornien zu sehen bekommen. Das Clustering in Silicon Valley bringt zweifelsohne Vorteile, aber das Home Office Modell wird den Verkehrs- und Umweltinfarkt in dieser Region hoffentlich etwas entspannen können.

    2 Mal editiert, zuletzt von Golden Age ()

  • Das Zusammenferchen von zu vielen Menschen in Städten birgt enorme Risiken wie auch am Nightmarket in Wuhan zu sehen (und zuvor in Guangzhou mit SARS im Jahr 2002), bei denen Tiere gehalten werden, die in Städten nichts zu suchen haben. Das viel zu enge Aufeinanderleben in vielen Großstädten ist geradezu ein gefundenes Fressen für Pandemien.

    Risiken, die primär auf mangelnde Hygienestandards in weiten Teilen Chinas zurückzuführen sind. Taiwan hat bspw. seit 2002 ein exzellentes Kontrollsystem etabliert, auch dort gibt es Night-Markets mit Gedrängel teils schlimmer als auf der Wiesn und vor Ort zerlegten Tieren. Ich kenne auch kaum sauberere Städte als die Megacities Tokyo oder Osaka.

    Ich würde da also kein grundsätzliches Argument gegen Urbanisierung sehen, das Wie ist entscheidend. In Deutschland bewegen wir uns ohnehin auf einem anderen Niveau der Urbanisierung, im Vergleich geradezu beschaulich ;).

    Noch ein Wort auch zu unserem stadtplanerischen Vorbild der USA und dessen Maxime der autogerechten Stadt: Wer das "Clustering" in Städten und Gewerbegbieten befürwortet, ist oft sehr schnell beim großen Vorbild und Zentrum der Weltwirtschaft "Silicon Valley".

    […] Das enge Aufeinanderleben [...]

    Diese Maxime ist ja kein Naturgesetz, nicht umsonst verfolgen die meisten europäischen Städte (inzwischen wieder) den Ansatz, ÖPNV & Radverkehr zu stärken und den Autoverkehr zu reduzieren. Die USA sind sicher kein gutes Vorbild bzgl. Städtebau, da gebe ich dir völlig Recht. Gerade dort wird aber eben alles andere als "eng" zusammengelebt. Es wird zwar enorm viel Fläche versiegelt, aber eben extrem ineffizient genutzt (EFH wie Sand am Meer, breite Straßen, riesige Parkplätze, eingeschossige Lager- und Fabrikhallen).

    Ebenso ist die ewige Ausbreitung von Städten nicht sinnvoll (samt Versiegelung und Reduzierung von Grünflächen), wenn die öffenltiche Infrastruktur austeritätsbedingt nicht mitwächst

    Naja, leben die Menschen wieder verstärkt auf dem Land, wird eben dort mehr Fläche versiegelt, inkl. weiterer Vernetzung mit Straßen untereinander, Zerschneidung von Lebensräumen, zusätzlich benötigter Infrastruktur, um attraktiv für Bewohner und Unternehmen zu sein.


    Es ist nicht die Urbanisierung, das Wachstum der Städte per se, welches zu kritisieren wäre, es ist nur die Art und Weise, wie wir sie gestalten: Kompaktere Bauweisen, mehr Bäume und Sträucher anstatt versiegelte Plätze, ÖPNV-Ausbau, effizientes Nutzen der Fernwärme / Fernkälte, Fassadenbegrünung etc. Das alles ist noch längst nicht ausgeschöpft.

  • Größtenteils d'accord, dennoch... Es handelt sich aber um Risiken aus denen China bislang nicht hinzu lernen will, wenn man berücksichtigt, dass das beinahe identische Problem schon 2002 aufgetreten ist, also eine toxische Mixtur aus Mensch und Tierhaltung in dicht bevölkerten Städten (sowie ein völliger Aberglaube bei traditioneller Medizin aus dem tiefen Mittelalter). Als die bald weltgrößte Volkswirtschaft und aufstrebende Großmacht, sowie bevölkerungsreichste Land der Welt und 160 Städten (!!!) mit mehr als 1 Millionen Einwohner sollten hier jetzt eigentlich alle Alarmglocken angehen. Mit Shanghai, Shenzhen, Peking und Hong Kong will China in der Champions League der Wirtschafts-Metropolen mitspielen, aber bietet nur Kreisklasse an, wenn es um Basis-Hygienestandards in ihren Städten geht. Entscheidend ist, dass sobald ein Virus ausbricht selbst die saubersten Städte der Welt (siehe Singapur) erhöhte Angriffsfläche bieten. Insofern agiert China hier nicht im Vakuum, sondern in einem hochsensiblen Ökosystem aus miteinander verbundenen Städten.


    Wegen dem Vorbild USA: Natürlich färbt der amerikanische Städtebau weiterhin stark auf Deutschland ab, Frankfurt mit seiner Skyline und einem Überfluss an halbleeren Shopping Malls, viel zu prominenten Parkhäusern und breiten Pendler-Stadtautobahnen (Berliner Straße, Reuterweg, etc.) ist doch fast das beste Beispiel europaweit hierfür. Der ÖPNV und Park & Ride wird wegen Corona derzeit links liegen gelassen, stattdessen sehe ich morgens eine Kolonne an großen Sportwagen-SUVs in denen meist eine Person aus dem Speckgürtel bzw. "Suburbia" anreist (die viel zu großzügige Pendlerpauschale sei Dank). Hier ist die deutsche Stadtplanung auf dem Stand von 1952 stehen geblieben und das ist was ich mit ökologischem Irrsinn anprangere.


    Gestaltung von Städten: Hier stimme ich vollkommen überein. Weniger großflächige / grobschlächtige Bauweisen, deutlich mehr Grünflächen und sogar ein Abbau von Versiegelung, deutlich schnellerer ÖPNV-Ausbau besonders in die Neubaugebiete, viel bessere Nutzung von Dachlandschaften und Fassaden zum CO2 Ausgleich.


    Polarisierung Stadt vs. Land: Hier bin ich vollkommen anderer Meinung. Die Städte New York (sehr dicht bebaut übrigens), Chicago, Boston, San Francisco, Seattle, Washington DC, Miami, Portland, Minneapolis, Denver, Atlanta, Austin, Los Angeles, San Diego sind beinahe die alleinigen Profiteure der Globalisierung in den USA und haben sich sehr stark vom "Heartland" bzw. Trump Country der USA entfremdet. Dieser Trend wird darin verstärkt, dass beispielsweise 80% des Venture Kapitals (also Startkapital für die so dringend benötigten Firmengründungen) in drei Bundesstaaten, also Kalifornien, New York und Massachusetts fließt. Firmen in den USA siedeln sich zudem vor allem dort an, wo die besten Universitäten und Forschungseinrichtungen ansässig sind, das sind doch meistens genau die oben genannten 15-20 Städte, da diese selbstverständlich ihre Einnahmen direkt wieder reinvestieren. Auch in Deutschland gab es einen „Brain Drain“ von Norden und Osten in Richtung Westen und Süden (und besonders in die Städte hinein), die Resultate sehen wir in den Landtagswahlen von Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern. Ich sehe es sehr positiv, wenn die Vorteile der Globalisierung wieder etwas breiter verteilt werden (und nicht nur auf die 5-6 größten Städte eines Landes entfallen) und das Home Office Modell sehe ich hierbei als einen entscheidenden Faktor für die Trendwende.

  • Alles klar ;-), aber ich hatte auch folgendes Zitat von Dir gelesen: "Das ist im Fall USA zu einfach. Sicher verstärkt die Urbanisierung den Effekt, doch politische Polarisierung und krasse Gegensätzlichkeiten prägen die USA seit ihrer Gründung.... "


    Hier meine ich schon, dass die letzten 30 Jahre und besonders die letzten 10 Jahre klar von der vorherigen Geschichte der USA abheben. Attraktive Städte sind mittlerweile vor allem Spielplätze für Wirtschafts-Eliten und ähneln immer mehr "Gated Communities". In San Francisco ist es schwer ein Hotelzimmer unter 220 Euro / Nacht zu finden obwohl es die Geburtsstätte von AirBnb ist.


    Ich bin nicht überzeugt, dass es sich um schon immer da gewesene Trends handelt. Vorstandsgehälter sind seit 1974 um 940% (!!!) gestiegen während das mittlere Einkommen seitdem stagniert (Quelle). Der Brain Drain in Richtung Städte ging erst unter Reagan so richtig los, besonders auch als die viel zu breit angelegte Deregulierungswelle und Steuersenkungen für Unternehmen und Wohlhabende so richtig einsetzten. Ebenso hat die Polarisierung der Medien (besonders das erst seit 20 Jahren agierende FoxNews und die Unsocial Medien) die Balkanisierung der USA voran getrieben und sehr liberale, weltoffene Orte wie San Francisco, Seattle oder Portland gelten mittlerweile als Inbegriff des Bösen unter Trump-Wählern.


    Auch die Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama müssen sich vorwerfen lassen diesen Trend nicht aufgehalten zu haben. Die USA hat es nicht verstanden die erheblichen Gewinne der Globalisierung besser über das Land hinweg zu verteilen (wie in Deutschland mit dem Länderfinanzausgleich der Fall). Die Städter in USA und UK sind so immer "betriebsblinder" geworden und haben in London und New York alle Vorteile der Globalisierung vor der Haustür, aber haben es versäumt der breiteren Gesellschaft einen Zugang hierzu zu ermöglichen (die Meritocracy wollte schließlich unter sich bleiben).


    Wir alle wissen, dass Städte auch nach der Coronakrise die meisten Trümpfe in der Hand halten werden, aber ich halte es für gesund, wenn sich Städte wieder für einen breiteren Teil der Gesellschaft öffnen und die dadurch verursachte Polarisierung wieder stärker abnimmt.

  • ^ Mal abwarten, ob Großstädte tatsächlich wieder als die großen Gewinner nach Corona hervorgehen. Im Moment sieht es nämlich gar nicht danach aus, wenn man zahlreichen Zeitungsartikeln über die Stadtflucht gehobener Bevölkerungsschichten in Frankreich, Großbritannien und den USA im Zuge der Coronakrise Glauben schenken mag. Verstärkt durch diesen Trend und in Folge gegenwärtiger Einschränkungen wird Armut und Verelendung wieder verstärkt sichtbar. Das gilt auch hierzulande, wenn auch Gottseidank in deutlich abgeschwächter Form.


    Ich schätze, die Folgen durch Corona werden so gravierend sein, dass wir uns das noch gar nicht vorstellen können.

  • Laut Insitut der deutschen Wirtschaft (Spiegel Artikel vom August) ist das Homeoffice eine große Chance für den ländlichen Raum (besonders der erweiterte Umkreis der Metropolen). Ein Ansturm auf das Land werde nicht erwartet, aber das Einzugsgebiet der Metropolen wird sich voraussichtlich erweitern. Das ländliche Gebiet sollte hierbei auch die nötige Infrastruktur (Kitas, Schulen, schnelles Internet, Kulturangebot) besitzen um attraktiv für Städter zu werden. Rund um Frankfurt würden mir spontan hierbei kleinere Städte wie Worms, Bingen, Speyer, Marburg, Bad Kreuznach und Limburg einfallen, die profitieren könnten.


    Weitere Analysen:

    • Jones Lang Lasalle (JLL) meldete sich mit einer ähnlichen Analyse (Link zum Bericht) zu Wort mit dem Hinweis, dass sich Wohnwünsche ändern werden (Balkon, Arbeitszimmer, Garten). Besonders in München, Frankfurt, Düsseldorf, Köln und Darmstadt werde mit einer Verschiebung der Wohnungsanfrage gerechnet.
    • Der Homeoffice-Boom stellt zu einem gewissen Grad auch die Zunkunft des Büro-Turms in Frage (siehe Spiegel-Artikel vom Mai).
    • Die DZ-Bank kam ebenfalls mit einem Report zum Homeoffice-Impact heraus. Für Spizenlagen in M, B und F gäben Arbeitgeber im Schnitt 15.000 Euro pro Mitarbeiter aus (bei einem Schnitt von 30 qm), während die Schreibtische durchschnittlich nur 190 Tage im Jahr verwendet werden. Die Sparmöglichkeiten, die sich hier für Unternehmen ergeben, sollten daher offensichtlich sein.
  • Golden Age:


    Hier noch kurz das Zitat aus dem Ursprungsthread auf das ich mich mit meiner von dir in #8 rezitierten Aussage beziehe:

    Zitat von Golden Age

    Die politische Spaltung zwischen Stadt und Land hat uns bereits Brexit und Trump beschert


    Ich erkenne keinen grundsätzlichen Widerspruch in unseren Thesen: Politische Polarisierung scheint durch anhaltende Urbanisierung begünstigt zu werden. Generell halte ich es für äußerst schwierig, festzulegen, ob ein beobachtbarer Sachverhalt in kausaler Beziehung zur Urbanisierung steht - und in welcher Richtung, ob Wirkung oder doch eher Ursache - oder ob er doch nur korreliert. Ich denke es ist nicht abwegig, oftmals eine wechselseitige Beeinflussung / Abhängigkeit zu unterstellen.

    Dass der Nationalist Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, geht daher meiner Ansicht nach auch über die Kausalkette "Ungleichheit Stadt - Land --> Trump" hinaus. Kein Widerspruch also, sondern vielmehr eine Erweiterung deiner Aussage ;)


    Die USA hat es nicht verstanden die erheblichen Gewinne der Globalisierung besser über das Land hinweg zu verteilen (wie in Deutschland mit dem Länderfinanzausgleich der Fall).

    Uneingeschränkte Zustimmung zur These. Jedoch zum Zeitrahmen: Die USA sind seit 250 Jahren Treiber der Globalisierung und legten lange einen wohl weltweit einmaligen Fortschrittsoptimismus an den Tag; ebenso lange vereinnahmen die Staaten die resultierenden Gewinne. Gleichwohl wechselten Phasen des Protektionismus und Nationalismus regelmäßig mit Phasen des Liberalismus. Heute spielen die Zahlen in anderen absoluten Ligen, krasse Armut auf der einen und eine illustre Wohlstandselite auf der anderen Seite, sind jedoch stets ein Begleiter amerikanischer Wirtschaftsgeschichte gewesen. Das fängt bei der Sklavenhaltung an und hört mit dem Boom und Niedergang zahlreicher mehr oder weniger vollständig verschwundener Industrien, die in den unterschiedlichsten Regionen beheimatet waren, wahrscheinlich auch nicht auf. Die negativen Konsequenzen hatten und haben ländliche Regionen wie auch Städte zu tragen, Ungleichheit beschränkt sich nicht auf die Trennung zwischen Stadt und Land, das Scheitern der USA in der Verteilungsfrage ist keine zwingende Folge der Urbanisierung sondern auch Resultat bewusster politischer Entscheidungen - für letztere beschreibst du selbst Beispiele:


    besonders auch als die viel zu breit angelegte Deregulierungswelle und Steuersenkungen für Unternehmen und Wohlhabende so richtig einsetzten.

    Deregulierung und ein wohlstandsprivilegierendes Steuersystem geistern als Werkzeuge der Politik schon seit der Einführung einer Bundesregierung durch die Staaten, mal wurden die Schrauben angezogen, mal gelockert. Immer präsent, die ökonomische Dimension des American Dreams und dessen von der Oberschicht hochgehaltenen Ideale vom Selfmademan. Staatliche Regulierung unerwünscht. Zur Oberschicht gehörten und gehören in den USA natürlich häufig auch Politiker. Trump als selbsterklärter Selfmademan und Gegner des Ostküstenestablishments, obwohl als Milliardär, der gerne andere Milliardäre für politische Ämter nominiert, doch mittendrin, versteht es fast meisterhaft, genau diese Abneigung gegen Regulierung und höhere Steuern für Wohlhabende zu erzeugen. Die Republikaner verstehen es, die Pilgervergangenheit romantisch zu verklären. Auch das permanente Bestreben nach Deregulierung und geringer Steuerlast für Reiche - die es im Sinne der großen Vision ja geschafft haben und dafür nicht mit Steuern "bestraft" werden sollten - ist also eng mit den Wurzeln der USA verknüpft; dem Nachteil für die überwiegende Bevölkerung zum Trotz. Das heißt natürlich nicht, dass es mit dem Beginn des deregulierten Finanzkapitalismus ab den 1980er Jahren in der Tat nicht noch einen weiteren Schub des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens gegeben hätte, innerhalb der Städte wie zwischen Stadt und Land.


    Ganz ähnlich verhält es sich mit Obamacare. Es gilt vielen Bürgern als Ausdruck ihrer Freiheit, keine staatlich organisierte Krankenversicherung zu besitzen, "wer krank wird, soll selbst zusehen, wo er bleibt und nicht die Allgemeinheit belasten". Solidarische Prinzipien existieren bei vielen Trump-Wählern offenbar nicht. Ich bin sogar überzeugt, dass es bei all der Doppelmoral genug Wähler gibt, die unter der zweifelsfrei miserablen, da unbezahlbaren Gesundheitsversorgung in den USA leiden, und ihn dennoch wählen. Die Demontage der Obama Jahre war immerhin ein zentraler Punkt innerhalb Trumps Wahlversprechen und dürfte einige Bürger überzeugt haben. Den Einfluss der Urbanisierung halte ich hier für begrenzt.


    Ebenso hat die Polarisierung der Medien (besonders das erst seit 20 Jahren agierende FoxNews und die Unsocial Medien) die Balkanisierung der USA voran getrieben

    Rufmordkampagnen und Skandalisierungen sind zwar eher die Regel als die Ausnahme in den USA, insb. auch bei Präsidentschaftswahlen, doch beschreiben hier die letzten 10 - 15 Jahre tatsächlich ein Novum und fördern ganz gewiss die gesellschaftliche Polarisierung. Ob sich hier jedoch eine trennscharfe Linie zwischen Stadt und Land zeichnen lässt?


    Die Städter in USA und UK sind so immer "betriebsblinder" geworden und haben in London und New York alle Vorteile der Globalisierung vor der Haustür, aber haben es versäumt der breiteren Gesellschaft einen Zugang hierzu zu ermöglichen (die Meritocracy wollte schließlich unter sich bleiben).

    Dass Vorstände mit Millionengehältern meistens kein Gespür mehr für die Sorgen der Mittel- und Unterschicht besitzen, leuchtet mir ein. Weshalb Städter es versäumt haben, einer breiten Gesellschaft Zugang zu den Vorteilen der Globalisierung zu verschaffen, nicht. Bieten nicht gerade die Städte den größten Querschnitt unterschiedlichster Kulturen und Schichten? Was hätten die Städter deiner Meinung nach aktiv tun müssen, um das im Zitat genannte Versäumnis zu verhindern?

    Wenn ich mir den Haushalt der USA 2018 ansehe: Das Pentagon erhält mehr Mittel als alle anderen 16 Ressorts zusammen, gleiches gilt für viele davor, 2019 war der Etat schon wieder so hoch wie zu Zeiten des Irak-Kriegs. Der Bildungsetat ist dagegen seit Jahrzehnten verschwindend gering. Fachkräfteausbildung findet so gut wie nicht statt, es gibt eine massive Ungleichheit zwischen den reichen, da sündhaft teuren, privaten Einrichtungen (die sich nicht nur in den großen Metropolen befinden) und den mittellosen staatlichen (die sich auch in den Städten finden). Die Folge ist, dass sich Global Player um ausländische Fachkräfte bemühen, wodurch wiederum bestimmte Ressentiments befördert werden. Sogar der viel beschworene Aufstieg von ganz unten nach ganz oben wird durch die desaströse Bildungspolitik erschwert oder sogar unmöglich gemacht. Wollten die USA etwas für eine bessere Verteilung der Globalisierungsvorteile, für das Schaffen einer Perspektive auf dem Land wie auch in den Städten, erreichen, einer der größten Hebel wäre das Bildungssystem.


    Mit einer für alle erschwinglichen Gesundheitsversorgung, einem leistungsfähigen Ausbildungssystem, mehr Regulierung und einer faireren Besteuerung wäre der Bevölkerung sicher geholfen - deren Umsetzung ist jedoch, wie versucht darzustellen, auch aufgrund der eigenen Nationalgeschichte und Verklärungen höchst umstritten, selbst unter denen, die davon nur profitieren würden. Aber wie schrieb George Orwell schon 1945 über Nationalisten: "Die devoten Anhänger erwarten keine Einschätzung der Fakten, sondern nur die Stimulation nationalistischer Loyalitäten".

  • Dass der Nationalist Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, geht daher meiner Ansicht nach auch über die Kausalkette "Ungleichheit Stadt - Land --> Trump" hinaus. Kein Widerspruch also, sondern vielmehr eine Erweiterung deiner Aussage ;)

    Hier sind wir m.E. beim Kern der Diskussion. Die Kausalkette "Ungleichheit London - Rest des Landes--> Brexit", "Ungleichheit Mailand & Rom - Rest des Landes -> Salvini / Berlusconi" oder "Ungleichheit Paris - Rest des Landes-> Gillets Jaunes" sollte bei dieser Betrachtung aber keinesfalls ausgeklammert werden. Wir sehen doch hier ein gewisses Muster in vielen (nicht allen) Ländern der OECD, besonders in Ländern mit zentralistischen Ansätzen und in denen politisches / wirtschaftliches Zentrum überein stimmen. Andere Länder wie Deutschland, Japan oder Schweiz, die keineswegs fehlerlos geblieben sind, haben es da besser verstanden den Rest des Landes nicht zu sehr abzuhängen.


    Der berühmte Länderfinanzausgleich (LFA) soll "No Go Areas" verhindern und "gleichwertige Lebensverhältnisse" im ganzen Land ermöglichen. Wer heute das strukturell sehr schwache Bremerhaven besucht, wird überrascht sein, dass es dort trotz der offensichtlichen Armut dank enormer Investitionen sogar relativ gut aussieht. Sicherlich hat auch die Wiedervereinigung dabei geholfen die Sinne für abgehängte Regionen zu schärfen. Der Turnaround den Städte wie Leipzig, Potsdam, Jena oder Erfurt in nur 29 Jahren geschafft haben (Dresden klammere ich mal aus), ist erstaunlich und dieses Know-How kann auch in Städten wie Duisburg, Wuppertal oder Offenbach angewandt werden. In Duisburg sieht man ja auch schon enorme Fortschritte. Wichtig in Deutschland (sowie Japan / Schweiz / Skandinavien) ist die starke Fokussierung auf die Exportwirtschaft, die vor allem einer mittelständigen Unternehmenslandschaft zugute kommt, die sich oft in ländlichen Regionen befindet. Besonders die Lehre / Ausbildung im Werk ermöglicht auf diese Weise Karrieren (auch Dank des zweiten Bildungswegs), die in US, UK oder Frankreich undenkbar wären. Auch die höhere Bildung bleibt in den sozialen Marktwirtschaften wesentlich zugänglicher und ist in den anglosächsischen Ländern vor allem ein Privileg für die "Globalisierungsgewinner" (also Städter), die sich die absurd hohen Studiengebühren leisten können (der Rest verschuldet sich bis zum Lebensende). Im Vergleich sind die offensichtlichen Schwächen des anglosächsischen Sozial-Darwinismus ("Survival of the fittest" bzw. "Survival of the richest") und einem selbstgerechten "Metritocracy"-Kult im Zuge der Globalisierung (d.h. Konkurrenz aus Asien) besonders stark zutage getreten und äußern sich bei der Ungleichheit zwischen Stadt und Land.


    Die USA und UK sind als Treiber der Globalisierung sicherlich gewillt dazu zu lernen und ihre Wirtschaftssysteme gerechter zu machen. Die Präsidentschafts-Wahl in vier Wochen wird wahrscheinlich zur wichtigsten Abstimmung der US-Geschichte werden. Meine Vermutung ist, dass eine gerechtere Wirtschaft unter Biden nicht (mehr) als sozialistisches Schreck-Gespenst taugen und eine Rückkehr zur Obama-Ära als positiv gewertet wird.


    Die Wahl Trumps und besonders der Brexit waren hoffentlich ein Weckruf an alle Demokratien große Teile ihrer Länder nicht zu "No Go Areas" verkommen zu lassen. Das Erfolgsmodell "Home Office" wird zumindest dabei helfen den 100km Radius um die grössten Städte weltweit zu stärken. Das ist aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung um die erheblichen Vorteile der Globalisierung breiter zu verteilen als nur auf die 5-6 grössten Städte / deren Vororte des jeweiligen Landes.