Fischerinsel / Petriplatz / Breite Straße

  • Ich glaube ich höre wieder Äpfel und Birnen klingen. Die Fischerinsel mit Reichs- und Hansestädten zu vergleichen gelingt wohl nur Dir werter Architektur-Fan. Wie der Name schon sagt. Fischerinsel.

  • Hier mal ein Luftbild der Fischerinsel aus der Zwischenkriegszeit. Man sieht (vor allem am rechten Bildrand), dass schon in der Gründerzeit einiges an älterer Bebauung ersetzt worden ist. Auch in der Grünstraße (?) stehen bereits Gebäude aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ich bin mir ziemlich sicher: Ohne die tabula rasa nach dem Krieg hätte man aus der damals erhaltenen Bebauung heute ein attraktives Quartier machen können, vergleichbar mit der Spandauer Vorstadt (die war im Kaiserreich bekanntlich auch ziemlich verslumt). Nur hat sich diese Art der Aufwertung historischer Viertel erst ab den späten 70ern durchgesetzt. Davor gab man sie zum Abriss frei, aus hygienischen und polizeilichen, später aus sozialpolitischen Gründen (aus polizeilichen übrigens schon im Kaiserreich – siehe altes Scheunenviertels um 1906).


    Aber das ist vergossene Milch. Für mich lautet die Frage: Wie gewinnt man die Fischerinsel als Stadtraum zurück, ohne die vorhandenen Wohnungen zu zerstören? Es gibt Pläne, die Hochhäuser in einen neuen Blockrand zu integrieren. Dem steht der Blauraum-Entwurf städtebaulich nicht entgegen – auch wenn ich ihm architektonisch wenig abgewinnen kann.

  • Es ist richtig: Diese Hochhäuser sind nun einmal da, sie bieten vielen Menschen Wohnraum, man wird sie auf unabsehbare Zeit nicht wegräumen können. Dennoch gebe ich zu, dass die Fischerinsel das innerstädtische Ensemble ist, mit dem ich mich nicht abfinden kann. Gerade vor zwei Tagen bin ich in der Luisenstadt und in Neu-Kölln (nicht: Neukölln!) geschlendert, diese Gegend hat enorm viel Potential und entwickelt sich sehr gut, das "Metropol Park" ist überraschend gut geworden, in der schönen Wallstraße und dem bezaubernden Märkischen Ufer fühle ich mich stets eigentümlich wohl, diese Gegend bringt in mir eine Saite zum Erklingen wie sonst keine andere Gegend Berlins, auch die Brücken sind schön – und dann diese Hochbauten auf der Fischerinsel!


    2020-12-1914.15.53sijtw.jpg

    Bild von mir & von vorgerstern & gemeinfrei.


    Sicher, sie bieten ihren Einwohnern eine gewisse Aussicht, viel Licht und auch etwas Grün, aber sie verkörpern zugleich alles, was den modernen Städtebau nachhaltig in Verruf gebracht hat: Vollkommenes Fehlen von geschichtlichen und lokalen Bezügen, autitisches und brutales Ignorieren sämtlicher spezifischer räumlicher, natürlicher und urbaner Gegebenheiten (Wasserlage, Insel, die kleinteilige Bebauung südlich gegenüber und die Art der Bebauung in der Umgebung). Die historische Fischerinsel wäre heute ein Schmuckstück, die innenstadtnahe Insellage hat so viel Charme und hätte selbst nach dem Flächenabriss noch immer so viel Potential gehabt. Stattdessen diese Fischerinsel! Nein, ich werde mit ihr keinen Frieden schließen.

  • Weiss jemand wann diese Riegel das letzte mal frisch gemacht wurden ?
    Im Vergleich zu den Hochhäusern auf der Leipziger Straße sehen sie irgendwie Billig aus.

    Ich würde eine neue Fassade in etwas hochwertiger Ausführung ( Sandstein ? Ähnlicher Ton wie das kommende House of one?) und ergänzend eine blockrandbebaung hier sehr begrüßen..

  • Soweit ich mich erinnern kann, war das um das Jahr 2000 herum - zur gleichen Zeit, als das Ahornblatt dort abgerissen wurde. Die Leipziger wurde etwa zeitgleich modernisiert - auch wenn sie heute noch sehr viel frischer und hochwertiger wirkt.


    Bitte nicht sinnlos zitieren! Danke

  • ^ Die Häuser in der Leipziger spielen städtebaulich in einer anderen Liga, finde ich. Auch architektonisch, wenn man sich die breiten Balkonfronten anschaut, die hier fehlen. Ich glaube, die wirkten (und waren) auch zu DDR-Zeiten hochwertiger.

  • Leute, bei der ‚rattenverseuchten Slum‘-Argumentation bitte mehr Vorsicht an der Bahnsteigkante. Zunächst mal zum Begriff ‚Fischerinsel‘, er ist nämlich nicht historisch. Der Name ist ‚Kölln‘, oder ‚Alt-Kölln‘. Fischerinsel ist eine Neuschöpfung aus den 50ern und Markenkern einer sozialistischen Bettgeschichte, mit der die DDR letztlich Abriß und Umbau begründete. Gute Propaganda ist als solche nicht zu erkennen, bildet aber tiefe, gefühlsmäßige Assoziationen aus. Noch heute labern viele vom ‚Scheunenviertel‘ als einem jüdischen Viertel ohne zu realisieren, dass sie unreflektiert Nazipropaganda aufsitzen und perpetuieren.

    Vermutlich ist der Begriff ‚Fischerinsel‘ assoziativ im Gegensatz zu dem 20er-Jahre-Begriff ‚Museumsinsel‘ geprägt worden, letztlich um den Gegensatz zwischen Proletariat, Fürsten und Bürgertum herauszuarbeiten. Warum Fischer? - weil St. Peter der Schutzheilige des Berufsstands ist und die Köllner Pfarrkirche so hieß. ,Petri heil!‘ an der Spree, ergo lebten hier die Fischer. Nicht ganz abwegig, dass Siedlungen am Wasser ursprünglich auch Fischer enthielten, aber die Doppelstadt wuchs als Handelsknoten und administratives Zentrum, gefischt wurde aber seit Jahrhunderten stromauf in Stralau. Nun müssen Fakten und Belege guter Propaganda nicht im Weg stehen, und in der Logik der Fortschrittsgläubigkeit der 20-60er Jahre waren Altstädte einfach pofig. Da kam man ja noch nicht mal mit dem Auto durch, geschweige denn, dass es sich parken ließ, es gab zwar fließend Kaltwasser aber nur Herzhäuschen übern Hof. Überbelegt zudem. Eben was auch damals schon unter ‚katastrophale hygienische Zustände‘ fiel. In der Logik der Zeit war daher ‚Alt-Kölln’ genauso der Abrissbirne verfallen wie das ‚Schloss‘, beides war im Zentrum der sozialistischen Hauptstadt nicht akzeptabel und mußte weg. Die Propaganda half über den Abschiedsschmerz, denn die alten Viertel waren durchaus beliebt, über sie war geschrieben und sie waren gezeichnet worden, hier menschelte es einfach.


    P.S. Ich nehme an, dass Camondo nicht in einem dieser Typen-Punkthochhäuser aufgewachsen ist. Hier gab es nämlich ein veritables Rattenproblem durch die Form der Abfallentsorgung (Müllschlucker, Müll- und Speckitonne); in unsern Kellern lagen immer Giftköder aus.

    Einmal editiert, zuletzt von Cavendish ()

  • ^ Der Name "Fischerinsel" ist tatsächlich, wie Du schreibst, nicht historisch, sondern eine Neuschöpfung der 50er Jahre. Mir scheint aber, dass Du den Bezug zu den Firschern, die hier wirklich lebten, etwas zu gering gewichtest, und man sollte auch nicht übersehen, dass ein Bereich der "Fischerinsel" schon viel früher Fischerkiz genannt wurde.


    In der Verkürzung irreführend ist das, was Du zum Namen "Scheunenviertel" sagst. Dieser Name selbst ist vollkommen unproblematisch, solange er die unmittelbare Gegend um die Volksbühne meint. Wenn man ihn als ehemaligen jüdischen Viertel bezeichnet, ist das auch nicht falsch, weil v.a. in den 20er Jahren hier tatsächlich außergewöhnlich viele Juden lebten, die aus dem Osten kamen/geflohen waren. Was Goebbels propagandistisch gemacht hat, ist die Ausdehnung des Namens "Scheunenviertel" auf die gesamte Spandauer Vorstadt, um dadurch in antisemitischer Absicht die integrierten bürgerlichen deutschen Juden in der Gegend um die Synagoge an der Oranienburger Straße mit den ärmlichen Ostjuden im Scheunenviertel zu vermengen.

  • Der weitere Umgang mit der Fischerinsel südlich der Gertraudenstraße war Thema in der Stadtwerkstatt Berlin Mitte des Jahres. Die Rückmeldung soweit: Niemand möchte in den nächsten Jahrzehnten an der Grundstruktur etwas ändern (Bezirk - als erster Zuständiger nicht, Senat auch nicht). Selbst die Frage nach einer aufwertenden Gestaltung der Freiflächen gestaltet sich schwierig für die kommenden Jahre, außer dem Bereich direkt an der Spree, wo u.a. größere ingenieurtechnische Umbauten am Uferbereich geplant sind. Von daher sind alle Überlegungen - wie z.B. auch der GHB, die einen "Wettbewerb" für dieses Gebiet durchgeführt hatte, um Vorschläge für die Rückführung in Richtung Blockrand zu unterbreiten - völlig aus der Luft gegriffen...

  • Danke an Cavendish und ElleDeBE für die interessante Geschichtsstunde. Im Wiki-Artikel zur Fischerinsel wird das Gebiet um die Wohnhochhäuser in dieser Karte als "Marktviertel" bezeichnet, in Abgrenzung zum "Schlossviertel" nordwestlich davon. Der Begriff wird allerdings nicht erläutert. Immerhin erinnert die seit mindestens 1750 übliche Bezeichnung "Spittelmarkt" für den Platz am heutigen gleichnamige U-Bahnhof daran, dass es hier einmal einen größeren Markt gab, möglicherweise dann auch weitere kleinere Märkte in der Umgebung.


    Friedward, Deine Vermutung, dass die Hochhäuser auf der Fischerinsel um das Jahr 2000 herum saniert wurden, wird durch das folgende Bild aus dem Wiki-Artikel zur Fischerinsel gestützt, das aus dem Jahr 2000 stammen soll. An zwei der Hochhäusern sieht man Gerüste.


    Bis vor etwa zwei Jahren habe ich auf der Fischerinsel gearbeitet und daher die Hochhäuser werktäglich gesehen. Ihr äußerer Zustand ist absolut einwandfrei, mangelnde Frischheit kann man ihnen in puncto Erhaltungszustand nicht vorwerfen.


    Ich persönlich habe lieber ein Hochhausviertel, dass sich klar abgrenzt bzw. abgrenzen lässt als die meist misslungenen Versuche, dieses zu integrieren. Die bereits bestehende und die geplante Bebauung an der Ecke Mühlendamm / Fischerinsel finde ich schrecklich. Ich hätte das Ahornblatt erhalten, es war ja verbunden mit einem Flachbau, in dem es Platz für Supermarkt, Arztpraxen etc. gab. Das ist Geschichte, ich weiß, ich würde nun aber lieber Geld und Mühe in die Viertel jenseits von Mühlendamm bzw. Spreekanal stecken (was ja auch geschieht), statt das Hochhausviertel zu verschlimmbessern.


    2000-08-06_ahornblatt7ejaz.jpg

    Bild: Wikipedia, Eintrag "Fischerinsel (Berlin)" (Abruf vom 22.12.2020)

  • ElleDeBE Volltreffer - du erliegst mMn leider dem gleichen Trug. Kannst Du mir einen einzigen Fischer belegen, der in den letzten hundert Jahren vor dem Abriss südlich der Gertraudenstraße sein Gewerbe betrieben hat? Ich gäbe mich geschlagen und wäre dankbar. In der verlinkten Quelle wird 'Fischerkiez' als generische Bezeichnung für eine Ansiedlung von Fischern benutzt, nicht als Ortsname. Selbst die für 1965 belegte Bezeichnung der Bilder Otto Nagels beziehen sich wohl eher auf ersteres als letzteres. Ein Fischer braucht ein Betriebsgrundstück, um Netze und Reusen zu trocknen und zu flicken. Niemand fischt in den eigenen Abwässern, auch damals nicht, und der Eintrag einer frühneuzeitlichen Stadt war wohl nicht unbedeutend. Einen gut erhaltenen 'Fischerkiez' kann man sich in Köpenick anschauen. Ich glaube aber, dass es spätestens seit der Anlage der Straße Friedrichsgracht im bezeichneten Gebiet bestenfalls Freizeitfischer gab...


    Bevölkerungen haben sich immer bewegt, und prekärer wurden die Verhältnisse in den Altstädten mit der industriellen Revolution. So wie in der Kollo-Strophe:


    'Jeder zieht nach Westen raus,

    Leer steht manches alte Haus,

    Doch es zieht, auf Schritt und Tritt

    Immer unsre Jugend mit.

    Draußen steht der Möbelmann,

    Und die Pferde ziehn schon an,

    Da schmeißt Mutter mit nem Wuff
    Oben die Erinnerung druff.


    Lieber Leierkastenmann, ...'


    Ditto im Bezug auf das Scheunenviertel; es ist leider belegbar falsch hier ein jüdisches Viertel zu verorten, und heute noch darauf zu beharren bestenfalls ein romantisches Sehnen oder so etwas. Aber das Scheunenviertel als jüdisches Viertel existierte nur in der Goebbelspropaganda; es war ein Viertel der armen Leute, unter ihnen auch Immigranten, unter denen auch Ostjuden, aber eine Minderheit. Das macht für sich kein jüdisches Viertel aus. Es war aber ein 'Hotbed' für die Radikalisierung, von links wie rechts. Die jüdische Emanzipation und Integration war demgegenüber in Berlin weit fortgeschritten.


    Llewelyn Es gibt ja in der Tat die Lokalität 'Köllnischer Fischmarkt', sie lag an der Kreuzung Gertrauden und Breite Str. Die Märkte waren nach dem bezeichnet, was sie verkauften: Molken, Fisch, Ochsen; waren 'Neu' oder lagen am Spital, daher 'Spittel'.

    Einmal editiert, zuletzt von Cavendish ()

  • Vermutlich ist der Begriff ‚Fischerinsel‘ assoziativ im Gegensatz zu dem 20er-Jahre-Begriff ‚Museumsinsel‘ geprägt worden, letztlich um den Gegensatz zwischen Proletariat, Fürsten und Bürgertum herauszuarbeiten. Warum Fischer? - weil St. Peter der Schutzheilige des Berufsstands ist und die Köllner Pfarrkirche so hieß. ,Petri heil!‘ an der Spree, ergo lebten hier die Fischer.

    Nein. Du tust so, als hätte sich die DDR-Führung das einfach ausgedacht, aber das stimmt nicht. Richtig ist, dass "Fischerinsel" als offizielle Bezeichnung für das Viertel aus DDR-Zeiten stammt. Es ist aber keine propagandistische Erfindung aus dem Nichts, sondern knüpft an die Stadtgeschichte an. Bereits im 15. Jahrhundert war die Gegend Sitz der Fischer- und Schiffergilde. Laut dieser Quelle war auch die Bezeichnung Fischerinsel "seit altersher" in Gebrauch; auf jeden Fall gab es dort neben der Petrikirche auch ein Petristraße, eine Fischerstraße und eine Fischerbrücke (wie ein Blick auf den Stadtplan des 18. Jahrhunderts beweist). Im 19. Jahrhundert prägte sich die Bezeichnung "Fischerkietz" für die Gegend heraus, auch wenn die Fischerei dort längst Geschichte war.


    Die DDR hat also zumindest an eine alte Namenstradition angeknüpft, wie sie auch heute gebräuchlich ist (siehe Samariterkiez, Wrangelkiez, Bergmannkiez, etc.). Auch wenn sie sonst alles Traditionelle aus dem Viertel entfernt hat – was übrigens schon in den Zwanzigerjahren geplant worden war, auch wenn die Neubebauung damals sicher anders und weniger brutal ausgefallen wäre. Und welche "tiefen, gefühlsmäßigen Assoziationen" sollte "Fischerinsel" als "Propagandabegriff" auslösen? Bei mir löst es nur die Vorstellung aus, dass es dort Wasser gibt und dass dort früher Fischer ansässig waren (was beides ja stimmt).


    Auch der Begriff "Scheunenviertel" ist ursprünglich keine Propaganda, sondern eine historische Bezeichnung: Er geht auf eine Anordnung des Großen Kurfürsten zurück, Scheunen aus Brandschutzgründen vor den Stadttoren zu errichten – eine damals übliche Maßnahme; Scheunenviertel gab/gibt es nicht nur vor (später: in) Berlin. Zunächst lebten dort Landarbeiter; zum jüdischen Viertel wurde es, weil Friedrich Wilhelm I. Juden ohne Hausbesitz dazu zwang, sich in den als Scheunengassen bezeichneten Straßen anzusiedeln. Mit der Zeit wurde "Scheunenviertel" zum Synonym für ein jüdisches Ghetto in Berlin. Die Nazis nutzten es als Propaganda-Chiffre, obwohl die Scheunengassen bereits ab 1906 in weiten Teilen abgerissen und überbaut worden waren.


    EDIT: Während ich schrieb, haben schon andere geantwortet. Ich denke aber, ich füge ein paar Aspekte hinzu, also lasse ich es stehen.

  • ^Die angeführten Quellen behaupten einen historischen Gebrauch des Begriffs gar nicht; und der Bezug ist ja unbestritten. Alle die anderen 'Kieze' sind Erfindungen der 90er und 00er Jahre. 'Kiez' hat hier einfach das in Berlin gebräuchliche 'Viertel' oder 'Karree' überlagert und verdrängt; die Referenz 'mein Kiez' ist umgangssprachlich, aber keine örtlich fixe Referenz, all das ist konstruiert. Persönlich habe ich nichts dagegen an einer eigenen Folklore zu stricken, man möge sie aber bitte nicht mit Historie verwechseln. Einen Beleg, dass 'sich die DDR-Führung das einfach ausgedacht hat', findest Du in diesem Artikel (auch nur populärwissenschaftlich, aber immerhin vom Fachmann).


    Es ist zwar echt OT, aber 'Scheunenviertel' wurde zum Synonym für jüdisches Ghetto durch Nazipropaganda. Wikipedia ist bezüglich historischer Darstellungen einfach nicht verläßlich; man hat vielleicht aus dieser einen Quelle kopiert (oder umgekehrt). Richtig ist, dass die Scheunen zunächst außerhalb des alten Oderberger/Georgen-/Königs-Tores lagen, bevor sie ab 1734 von der Akzisemauer umschlossen wurden. FW I zwang niemanden sich dort anzusiedeln: Das Privileg der Berliner Juden von 1737 beschränkte die Gemeinde auf 120 Familien und 250 Diener(-familien) für Berlin. Das Privileg definierte, wer als ortsansässig galt, und wies alle anderen einfach aus. Das Generaljudenreglement von 1750 kassierte alle vorhergehenden Regelungen und legte fest, dass sogenannte 'Betteljuden' im Armenhause der jüdischen Gemeinde beim (neuen) Prenzlauer Tor unterzubringen seien (Artikel XXII) bevor sie tags darauf ausgewiesen würden. Es gab überhaupt nur vierzig Häuser in jüdischem Besitz (Artikel XXVIII) im damaligen Berlin. Auch den Torzwang (Artikel XXI) hat Cocceji merkantilistisch ausdifferenziert, er galt nur für fremde Fußgänger und Reiter - jedoch nicht für Fuhrwerke, Gespanne und Postreisende. Der spätere Zuzug aus dem Osten war ein Phänomen des späten 19.Jh. / frühen 20.Jh. und den Drangsalen der russischen Politik und Pogromen geschuldet.


    Meine Tante Elli hat übrigens als Erstbezug in einer Wohnung in der Hirtestraße gewohnt, kannte die Gegend also noch aus der Zeit vor den Nazis. Sie war viel beim 'Kleiderjuden', wie viele andre Berliner auch. Man ging früh, weil der erste Kunde Rabatt bekam, und Juden wohnten mit als Nachbarn, wie alle anderen. Das änderte sich in Berlin erst Jahre nach der Machtergreifung mit der Mär vom Scheunenviertel als Ghetto. Es wird nicht besser oder richtiger, wenn man's einfach nur wiederholt.

  • ^ Das von Dir verlinkte Interview hatte ich auch schon gefunden. Es überzeugt mich überhaupt nicht – m.E. begeht der Professor schlicht einen etymologischen Fehlschluss, wenn er sagt, die Gegend sei "fälschlicherweise" als Fischerkiez bezeichnet worden: Er kritisiert aus der Perspektive des Mittelalters einen Sprachgebrauch des 19. und 20. Jahrhunderts. Und die Geschichte mit den Fischern als "Früh-Proletarier" ergibt auch wenig Sinn. Für die Geschichtsauffassung des Histomat spielten Proletarier im Mittelalter und der frühen Neuzeit keine große Rolle. Da ging es um Bürger und Bauern vs. Adel und Klerus.


    Nun gut. Die DDR hat eine Halbinsel, auf der es eine Fischerstraße, eine Fischerbrücke, eine Petristraße, eine Petrikirche und einen Fischerkiez gab, die Fischerinsel getauft. Wenn Du meinst, diese Entscheidung wäre nicht etwa naheliegend, sondern nur als besonders subtiler Propagandamove zu erklären – dann sei es so.


    Übrigens habe ich einen Entwurf für den Wiederaufbau der Gegend von 1954 gefunden. Der Name Fischerinsel war damals schon vergeben, die Planung sah völlig anders aus. Schade, dass sie nicht umgesetzt wurde.

  • ^^ Was den Namen "Fischerinsel" angeht, sehe ich keinen grundsätzlichen Dissenz. Dass es sich um eine Neubenennung der DDR handelt, wurde nicht bestritten und Du bestreitest nicht, dass der Name auch etwas mit den Fischern zu tun hat, die hier einmal lebten. Der Dissenz beruht, was mich angeht, nur darauf, dass Du den Aspekt der Neuerfindung ("Warum Fischer? - weil St. Peter der Schutzheilige des Berufsstands ist und die Köllner Pfarrkirche so hieß. ,Petri heil!‘ an der Spree, ergo lebten hier die Fischer") und der propagandistischen Absicht m.E. zu hoch gewichtest.


    Etwas anders verhält es sich mit dem "Scheunenviertel". Deine Polemik ("Noch heute labern viele vom ‚Scheunenviertel‘ als einem jüdischen Viertel ohne zu realisieren, dass sie unreflektiert Nazipropaganda aufsitzen und perpetuieren") konnte und kann ich nicht stehen lassen. Architektenkind hat auf die namensgebenden Scheunen hingewiesen, hier lebten gerade nach dem 1. Weltkrieg tatsächlich sehr viele Juden, besondern in der damaligen sog. Grenadierstraße, und wenn sich es sich bei der Rede vom "Scheuneviertel als Ghetto" um eine reine Nazi-Mär handelte, dann bist Du gescheiter als z.B. das Centrum Judaicum, das genau diesen Aspekt betont. Ich empfehle die Lektüre des Buches "Die Grenadierstrasse im Berliner Scheunenviertel. Ein Ghetto mit offenen Toren" in der Reihe "Jüdische Miniaturen". Nur ein Satz daraus: "Die so genannten Ostjuden kamen, vor allem nach 1881 als Folge vieler Pogrome in Osteuropa, aber nicht nur deswegen, nach Berlin und gaben der Grenadierstraße ihr auffälliges Gepräge. Sie dominierten das Alltagsleben in der Straße". 27

  • ^Touche. Sorry, ich mag mich nicht um des Kaisers Bart streiten. Die Anfangsthese war die von der Fischerinsel als 'rattenverseuchtem Slum', und sprach diesem 'bürgerliche Identität' ab. 'Wie der Name schon sagt. Fischerinsel.' Dieses 'nomen est omen' gilt hier aber nicht. Es handelt sich um ein Propaganda-Konstrukt; der Beleg wird aber nicht akzeptiert. Ist ok für mich.


    Die suggerierte Kontinuität des Scheunenviertels als vermeintliches 'jüdisches Ghetto' ist nicht belegbar. Dass es hier nach 1880 viele Juden gab, ist unbestritten, ebenso warum. War das Scheunenviertel deshalb kein 'normales' Wohnviertel mehr, sondern ein Ghetto? Ist der Wedding dann auch eines, weil die Anwohner ihm 'sein auffälliges Gepräge' geben? Ich glaube hier sollte man sehr vorsichtig sein, auch heutzutage hat sowas nicht nur Chancen im Stadtführer sondern auch auf Wahlplakaten zu landen.


    P.S. Ich habe nicht den Anspruch gescheiter zu sein, cih bin fehlbar wie wir alle. In dem verlinkten Artikel ist doch nur das Foto vom Centrum Judaicum? Die Bevölkerungsdichte um den Bülowplatz lag damals jenseits 11.000/qm, wer kann hier irgendeine Dominanz attestieren, zumal es auch ja nur noch um eine Straße zu gehen scheint? Als Buch empfehle ich meinerseits Selma Stern: Der Preussische Staat und die Juden. Über die Festtage hat man ja viel Zeit :)

  • ^ Dass der Name "Fischerinsel" auch ein Propagandakonstrukt war, wurde m.W. von niemanden bestritten, nur eben die Einseitigkeit der Behauptung, an der Du aber offenbar so hängst, dass Du sie wieder vorgebracht hast ("Es handelt sich um ein Propaganda-Konstrukt.") Aber wie gesagt, im Grunde kein wesentlicher Dissenz in der Sache!


    Ich verstehe leider nicht genau, wass Du mit "suggerierte Kontinuität des Scheunenviertels als vermeintliches 'jüdisches Ghetto'" genau meinst. Hier (ich sage "hier", denn ich lebe mitten im Scheunenviertel) lebten viele Juden, im Haus, in dem ich lebe, hängen viele Fotos aus den 20er Jahren, die das anschaulich belegen, die aus dem Osten eingewanderten Juden verliehen dieser Gegend ein spezifisches Gepräge wie sonst vielleicht nirgends sonst in Berlin, daher erinnerte das Scheuenviertel viele an ein Stättel oder eben ein Ghetto, und darin sehe ich nichts Verwerfliches und sehe daher keinerlei Grund, "vorsichtig zu sein", ebenso wenig wie das Centrum Judaicum, das das von mir genannte Buch gefördert hat. Ich glaube, es geht ganz gehörig etwas schief, wenn man, aus wohmeinendsten Gründen, glaubt, selbst die Erinnerung an das von den Nazis ausgelöschte jüdische Leben als problematisch ansehen zu müssen.

  • ^^ Sorry, dass ich mich hier festbeiße, aber ich finde das Thema wirklich interessant. Die Frage ist doch, was wollte die DDR mit dem Namen "Fischerinsel" erreichen? Wir haben in der Debatte jetzt drei Varianten – abwertend, aufwertend und neutral.


    1. Abwertend: "Fischer" klingt irgendwie nach ärmlich und rattenverseucht, also wollte die DDR mit der Namensgebung die Kahlschlagsanierung legitimieren.

    2. Aufwertend: "Fischer" waren die ersten Früh-Proletarier der Stadt, daran wollte die DDR anknüpfen.

    3. Neutral: Es gab durch Geschichte, Straßennamen und Umgangssprache viele Bezüge zur Fischerei, also war das ein passender Name.


    Letzteres wäre meine Deutung, aber die teilst Du ja nicht. Die anderen beiden hast Du erwähnt (bzw. über das verlinkte Interview eingeführt), aber sie widersprechen sich: Der Ideal-Prolet der DDR war zwar arm, aber fleißig, sauber und sittsam. Nix Ratten. Außerdem finde ich beide Varianten für sich genommen nicht überzeugend. Erstens weil der Name Fischerinsel schon aus den Fünfzigerjahren stammt, als noch eine Rekonstruktion des Viertels geplant war und kein Totalabriss. Zweitens weil die Fischerei im recht beschränkten Kontext der ML-Agitation keine Rolle spielte (zumindest abseits von Hafenstädten).


    Ich verbinde mit der Fischerei weder besonderes Elend noch einen heroischen Kampf gegen irgendwelche Unterdrücker – sondern nur Leute, die halt ihren Lebensunterhalt durch Fischfang verdienen. Eine Metropolenbevölkerung um 1950 wird das kaum anders gesehen haben. Worauf genau zielte also Deiner Meinung nach die Propaganda ab (ernstgemeinte Frage)?


    Wer sich die Straßen-Umbennungen der DDR anschaut, findet sie so subtil wie eine stumpfe Axt. Historische Ereignisse, Helden der Arbeiterbewegung, tote Funktionäre der Partei. Die Fischerinsel hätte in diesem Kontext z.B. Ernst-Zinna-Viertel heißen können – benannt nach einem prominenten Märzgefallenen von 1848 und insofern passend, als sich die heftigsten Barrikadenkämpfe der Revolution gleich um die Ecke in der Breiten Straße abspielten. Oder Hans-Kohlhase-Viertel – benannt nach dem einst dort ansässigen rebellischen Bürger, dessen Vita Heinrich von Kleist zum "Michael Kohlhaas" inspirierte. Stattdessen: Fischerinsel. Weil dort mal Fischer wohnten. Ich finde, als Propaganda rockt das nicht... ;)

  • ElleDeBE Ich hatte mich auf eine Aussage des Architektenkinds bezogen, vielleicht habe ich auch falsch verstanden. Und natürlich kann an jüdisches Leben erinnert werden, mich stört der Begriff Ghetto. Juden waren in Berlin voll integriert, eine Ghettoisierung gab es einfach nicht. Man hat die Gr. Hamburger Str. (nicht im Scheuenviertel) auch deshalb Toleranzstraße genannt, weil sich hier jüdischer Friedhof neben jüdischer Schule neben evangelischer Sophienkirche neben katholischem Hedwigskrankenhaus befanden und befinden. Ghetto ist anders als die Berliner Mischung.


    Architektenkind: Damit muß ich dich allein lassen, ich hab’s ja nun ein paar mal dargelegt. Nichts für ungut.

  • ^ Ja, lassen wir die Fischerinsel Fischerinsel sein.


    Kurz noch zum Scheunenviertel: "Voll integriert" – zumindest scheinbar – waren die bürgerlichen Juden, die dort nicht lebten. Die im Scheunenviertel traf Treitschkes Verdikt "Die Juden sind unser Unglück!" schon in der Kaiserzeit. Du hast oben was vom "romantischen Sehnen" nach dem jüdischen Scheunenviertel geschrieben, das es nie gegeben habe. Romantisch ersehnt scheint mir auch die Vorstellung eines Berlins ohne Antisemitismus zu sein, das Goebbels dann mittels Propaganda aus dem Nichts zerstört hätte.