Zukunft des Rathausforums / Marx-Engels-Forums

  • Nun ja, es ist doch leider generell so dass bei vermeintlich besonders geschichtsbewussten Diskussionen nie weiter zurück als das frühe 20. Jahrhundert geblickt wird. Als hätte die deutsche Geschichte erst mit dem Ende der Weimarer Republik begonnen. Aber die Geschichte, auch die berliner Geschichte, ist reicher als die Zeitgeschichte. Mir wollte noch nie in den Kopf, wieso gerade wir Berliner, die ja eigentlich eine lange Geschichte lokaler kreativer Architektur hatten, nun die "aufgesetzte" sozialistische Modellplanungen, wie sie überall im Ostblock so oder so ähnlich umgesetzt wurde, als besonders erhaltenswert und "originär berlinerisch" etc. hegen sollten. Berlinerisch sind die Mietskasernen aus dem 19. Jahrhundert mit Hinterhaus und Co., Fabrikbauten aus Backstein, Hartungsche Säulen, "Schweinebauch"-Pflaster Trottoir.. das ist für mich das steinerne Berlin, Heimat. Nicht der Alex oder das "Marx-Engels-Forum" und wird es auch nie werden. Ich würde gerne an jahrhunderte berliner Baugeschichte, gerade an so herausgestelltem Ort, anknüpfen wo es sich anbietet (also keine revanchistische Abrißumplanungen, aber wenn man ohnehin Gelände neu überplant) anstatt an die wenigen Jahrzehnte "sozialistischer Stadtplanung"!

  • Der Thread dreht sich nun auch schon seit Jahren im Kreis.


    Vermutlich ist es nur sehr eingeschränkt möglich die Gedankenwelt anderer Menschen nachzuvollziehen. Also zum Beispiel nachzuvolziehen wie jemand Heimatgefühle gegenüber Gebäuden hegen kann die während seines Lebens nicht existierten und nicht gegenüber jenen die existierten und die er selbst erlebt hat liegt außerhalb meiner Vorstellungsmöglichkeiten. Ich bin einfach nur so alt wie ich bin und vorher habe ich nicht gelebt.


    Das Implantieren von Erinnerungen kenne ich nur aus Science Fiction Filmen.

  • Berlin besteht ja nicht nur aus dem Gebiet rund um den Fernsehturm. Ich habe das halt immer als "fremd" empfunden. Und bin gar nicht traurig wenn im Zuge der üblichen Veränderungen (Umbau, Neubau, Abriß,..) die "detailgetreue sozialistische Originalplanung" nach und nach verblaßt und irgendwann wieder ein Gemisch aus den verschiedensten Epochen, anstatt eine flächendeckende Generalplanung eines einzigen Zeitgeschmacks, diese Gegend prägt. Und darum bin ich z.B. gegen den diskutierten Denkmalschutz und auch dagegen die DDR Planungen als besonders berlinerisch, identitätssstifend etc. darzustellen und jegliche Veränderung abzulehnen.
    Vielleicht ist zwischen dem Roten Rathaus und dem Fernsehturm dann mal ein Art Decor-Jugendstil-Klassizismus-irgendwas Gebäude zu sehen, wer weiss was die Architektur in 20 Jahren so hervorbringt und Historismus gibt es immer wieder. Gegenüber solchen Fantasien bin ich zumindest wesentlich offener, als Stagnation zu zementieren und ein großes Ostalgie-Freilichtmuseum einzurichten.

  • Zu den aufgeworfenen Fragen kann ich gern etwas schreiben. Tatsächlich beginnt die Geschichte des Großen Freiraums am Fernsehturm mit dem Rathausforum und dem Marx-Engels-Forum erst mit dem Beschluss zum Fernsehturm 1964, denn zuvor gab es keine Planungen für einen derartigen Freiraum. Der Freiraum ist direkt mit der Planung des Fernsehturms verbunden, dazu gibt es reichlich Material. Dass es an diesem Ort auch vor 1964 eine Geschichte geben hat, dürfte allgemein bekannt sein, und sie wurde ja auch hier im Forum schon reichlich besprochen. Ich wollte in meinem Beitrag ja nicht schon bekannte Dinge wiederkäuen, sondern Informationen liefern, die in diesem Thread noch nicht gepostet worden sind.


    Weiterhin ist es richtig, dass der Fernsehturm teurer wurde als geplant, deshalb wurde auch Ende 1965 Gerhard Kosel als Projektleiter abgelöst. Aber solche Kostensteigerungen bei öffentlichen Bauten sind ja nun wirklich nicht ungewöhnlich.


    Ansonsten kann ich noch ergänzen, dass die Fernsehturm-Planer große Sorgen hatten, dass sich der Fernsehturm zur Seite neigen könnte, ähnlich wie der Münzturm von Schlüter. Daher wurden vor seinem Bau umfangreiche Baugrundanalysen angestellt, mit Erfolg, wie man sieht. Es gab auch noch weitere Befürchtungen, z.B. dass Eisbrocken vom Fernsehturm abstürzen und die Fußgänger gefährden, daher wurde der Fernsehturm mit einer aufwendigen Enteisungsanlage ausgestattet. Zudem wurde bedacht, was passiert, wenn Flugzeuge in unmittelbarer Nähe des Fernsehturms die Schallmauer durchbrechen. (Man rechnete mit Provokationen der Westalliierten.) Der Fernsehturm wurde so ausgelegt, dass er diesen Belastungen standgehalten hätte.

  • Danke, daß Klarenbach den Segen gab, daß meine Info bezüglich der Kosten richtig ist....


    Desweiteren wäre schön, wenn Klarenbach ihre Quellen nennen könnte, rein aus Interesse, damit man auch mal was "für Zuhause" hat.

  • Implementierung der Vernunft

    Vermutlich ist es nur sehr eingeschränkt möglich die Gedankenwelt anderer Menschen nachzuvollziehen. Also zum Beispiel nachzuvolziehen wie jemand Heimatgefühle gegenüber Gebäuden hegen kann die während seines Lebens nicht existierten und nicht gegenüber jenen die existierten und die er selbst erlebt hat liegt außerhalb meiner Vorstellungsmöglichkeiten. Ich bin einfach nur so alt wie ich bin und vorher habe ich nicht gelebt.


    Das Implantieren von Erinnerungen kenne ich nur aus Science Fiction Filmen.


    Du bist eben ein absoluter Ausnahmefall, Chandler. Jeder andere kann das nachvollziehen bzw. befürwortet selbst eine traditionelle Rückwendung. Die Heimatgefühle kannst du sehr leicht nachvollziehen, wenn du dir das Berlin außerhalb sozialistischer Wüsten anschaust.


    Etwas direkter ausgedrückt: Deine Sichtweise ist reduktionistisch und formalistisch. Nichts gegen deinen Geschmack, es ist aber nun wirklich nicht schwer, die besagten Heimatgefühle nachvollziehen zu können. Ich habe diese ständig, z.B. jüngst, als ich in Gedanken den alten Potsdamer und Leipziger Platz vor mir sah, die alte Wilhelmstraße. So geht es mir dauernd. Und ich finde im Nachhinein, Berlin traut sich viel zu wenig, auf diese alten Realitäten wieder bezug zu nehmen. Es ist eine traurige Form von Identitätsverleugnung.


    Davon abgesehen: Ich bin der Meinung, daß das Rathausforum ein vermintes Gelände ist, daß erst mal unangetastet bleiben sollte. Zum Schrecken einiger Modernisten bin ich sogar der Meinung, daß die traditionelle Rückwendung in Zukunft noch stärker werden wird.


    Wenn nämlich die alten neurotischen Bindungen an die Nachkriegs- und Wendebefindlichkeiten schwächer werden und das Überzeugende der traditionellen Ästhetik viel unmittelbarer durchbricht. Ein Grund ist auch noch, daß sich die Legitimität dieser Richtung schon durch diverse Rückbezüge erwiesen hat (z.B. Pariser Platz, bald Stadtschloß, Blockrand- und Traufhöhenwiederherstellung).


    Genau dann kann nämlich auch erst die moderne Architektur ihre Kraft entfalten: Wenn sie in ausreichend Tradition eingebettet ist. Und da müssen wir beileibe nicht den Pariser Status erreichen. Keine Sorge. Das ist wohl das Paradox: Daß das zerstörte und entfremdet wiederaufgebaute Berlin auch ein Stück weit bewahrt werden muß. :)

  • Wenn ich das Bild von tel33 sehe, wird es mir noch einmal bewusster was Berlin an Identifikation geraubt wurde und sehe in diesem Bereich sehr viel Potenzial.


    Wenn dieses Areal als Berlins historische Stadtzentrum wieder ins kollektive Bewusstsein tritt, durch bauliche wie auch identitäre Ankerpunkte - welche jetzt fast vollends fehlen.


    Für meinen Teil finde ich eine traditionelle Rückwendung allzu verständlich und ich würde mich freuen wenn unter Umständen die ein oder andere Rekonstruktion ins Gespräch käme und diese identitäre Leere zumindest partiell genommen würde.


    Wie schon erwähnt, könnte durch den Wiederaufbau des Stadtschlossses dieser Prozess an Fahrt aufnehmen und hoffentlich so manchen Bau von dieser alten Farbaufnahme wieder dort hinzustellen, wo er seit Angedenken stand.


    Und ich muss unisono mit der Feststellung gehen:" Berlin traut sich viel zu wenig."

  • Na, wenn man vom Berliner Stadtkern nach Fertigstellung des Schlosses auf diese schöne Hochgarage schaut, wird der Wunsch nach kleinteiliger Bebauung sicher größer:



    Wikipedia

  • Ich habe diese ständig, z.B. jüngst, als ich in Gedanken den alten Potsdamer und Leipziger Platz vor mir sah, die alte Wilhelmstraße. So geht es mir dauernd. Und ich finde im Nachhinein, Berlin traut sich viel zu wenig, auf diese alten Realitäten wieder bezug zu nehmen. Es ist eine traurige Form von Identitätsverleugnung.


    Man könnte es auch als einen Fall von hartnäckiger Realitätsverweigerung bezeichnen.
    Wir haben das Jahr 2013, die Stadt ist heute wie sie ist als Resultat ihrer Borderline-Geschichte der letzten 100 Jahre (und nur dieses Berlin dieser letzten 100 Jahre wird weltweit als das eigentliche, schaurig-interessante Faszinosum wahrgenommen, die altpreußische Mottenkiste davor juckt doch nur ein paar Lokalhistoriker).
    Dieses ganze Geweine um das "gute alte Berlin" geht mir langsam echt auf den Keks, kauft Euch doch ne Zeitmaschine und dann ab nach Glaßbrenners Altberlin, viel Spaß dabei.
    Wenn ich mir tels Foto anschaue sehe ich ein enges Gewimmel mutmaßlich ziemlich mediokrer Gründerzeitkisten wie es sie in tausend anderen Orten auch gibt, für sich genommen verzichtbar und lockt auch außer ein paar Nostalgikern niemanden hinter dem Ofen hervor.
    Dann doch lieber die leicht größenwahnsinnig-futuristische Grandezza der sozialistischen Tuilerien mit dem Fernsehturm als Ausrufezeichen, so etwas gibt es anderswo nicht und wegen dieser Einzigartigkeit (und noch so ein paar anderen Kaputtheiten dieser Stadt) kommen die Leute hierher, und nicht wegen netter Altstadtniedlichkeit, denn die gibt bereits in Krakau, Bern, Prag, Regensburg und vielen vielen anderen Städten im Original und viel besser.
    Jetzt können alle ihre roten Punkte verteilen.

  • ^ Ich glaube vor allem nicht, dass es allzu viele Leute gibt, die die gegenwärtige Situation vor dem Ofen hervorlocken würde, auch keine Touristen. Was gibt es denn da außer dem Fernsehturm Tolles zu sehen? Hui, graue grobschlächtige Platten, wie es sie in jeder Stadt des Ostblocks oder irgendeines Schwellenlandes zu sehen gibt. Warum interessiert es dich scheinbar nur, was irgendwelche Touristen (vermeintlich) sehen wollen und nicht wie ein Stadtzentrum aussehen könnte, wo sich die Stadtbewohner wohlfühlen, wo sie sich gerne aufhalten und wo Lebendigkeit und Gewerbe abseits der 1-€-Branche entstehen? Eine Rekontruktion stellt nur eine Möglichkeit dar, wie mit diesem Ort umgegegangen werden kann. Wenn man dies befürwortet, kann man diese Meinung auch vertreten, ohne dass das gleich als Rumgeheule abgetan wird. Langfristig benötigt dieser wichtige Ort definitv mehr als nur Kosmetik.


    Wenn ich mir das Bild von tel anschaue, mag ich gar nicht glauben, dass all diese Strassen und Häuser auf dieser scheinbar kleinen Fläche gestanden haben. Mir gefällt diese Kleinteiligkeit und Unübersichtlichkeit. Großzügigkeit gibt es dagegen an sehr vielen Orten in Berlin. Den Fernsehturm inmitten einer rekontruierten Altstadt stelle ich mir übrigens auch sehr reizvoll vor.

  • Man könnte es auch als einen Fall von hartnäckiger Realitätsverweigerung bezeichnen. Wir haben das Jahr 2013, die Stadt ist heute wie sie ist als Resultat ihrer Borderline-Geschichte der letzten 100 Jahre (und nur dieses Berlin dieser letzten 100 Jahre wird weltweit als das eigentliche, schaurig-interessante Faszinosum wahrgenommen, die altpreußische Mottenkiste davor juckt doch nur ein paar Lokalhistoriker).
    Dieses ganze Geweine um das "gute alte Berlin" geht mir langsam echt auf den Keks, kauft Euch doch ne Zeitmaschine und dann ab nach Glaßbrenners Altberlin, viel Spaß dabei.


    Komm Du doch mal langsam in der Realität an, Urbanist. Deine polemischen und abfälligen Beiträge disqualifizieren Dich. Vor allem, weil sie keine ernsthafte Wiedergabe unserer oder meiner Position enthalten.


    Deshalb hier noch mal für Dich zum Nachlesen:

    Zitat von Echter Berliner

    Genau dann kann nämlich auch erst die moderne Architektur ihre Kraft entfalten: Wenn sie in ausreichend Tradition eingebettet ist. Und da müssen wir beileibe nicht den Pariser Status erreichen. Keine Sorge. Das ist wohl das Paradox: Daß das zerstörte und entfremdet wiederaufgebaute Berlin auch ein Stück weit bewahrt werden muß.


    Das haben wir jetzt schon x-mal in diversen anderen Strängen durchgekaut. Die von Dir imaginierten Fundamental-Historisten - von mir auch scherzhaft als 1912er Bande bezeichnet - gibt es hier nicht. Die findest Du im APH-Forum. Und auch dort sind wohl ein paar Realisten zu finden.


    Realismus in diesen Fragen bedeutet aber auch, das Bedürfnis nach Traditionalität nicht zu verleugnen.


    Wenn ich mir tels Foto anschaue sehe ich ein enges Gewimmel mutmaßlich ziemlich mediokrer Gründerzeitkisten wie es sie in tausend anderen Orten auch gibt, für sich genommen verzichtbar und lockt auch außer ein paar Nostalgikern niemanden hinter dem Ofen hervor.


    Reduktionismus. Formalismus. Es geht um ein Ensemble, das so eben nur in Berlin genau dort stand - und das so eben heute fehlt. In dieser Stadt. Ich bin übrigens auch erst mal gegen eine umfängliche Rekonstruktion. Die Idee eines einstmaligen (Zukunft) Kontrastes zwischen Fernsehturm und Marienviertel hat aber etwas für sich.


    Und lieber Urbanist: Da hätten wir dann wieder das kaputte interessante, widersprüchliche Berlin, weswegen die Leute hierher kommen. Aber na ja. Auch an andere: Holt doch nicht bitte immer diese Strohmann-Historisten-Guerilla aus der Mottenkiste. Das ist wirklich langweilig. Ich finde, man kann in einem Forum auch ein gewisses Argumentationsniveau erwarten, wo konsistent argumentiert wird. Ohne Verdrehungen und Simplifizierungen.


    Ich fände den Wiederaufbau des Reformatoren-Denkmals und evtl. die Schließung der danebenliegenden Ecke zur Spandauer mit dezidierten Historisierungen erwägenswert. Dadurch würde die Gegend gemütlicher, platzartiger und ein Stück vergangener Identität wäre wiederbelebt, ohne die jetzt noch öde Weite zu unterminieren.


    Ich kenne mich mit den früheren Straßen dort nicht aus, aber diese Lücke müßte wohl möglichst originalgetreu geschlossen werden mit eventuell postmodernen Einsprengseln oder Effekten, die den Wiederaufbaucharakter hervorheben. Dies würde einen besseren Kontrast zum Fernsehturm-Ensemble bringen - und eben dieses in seiner Modernität auch stärken. Auch wäre die Marienkirche dann besser rekontextuiert. Es wäre auch für die Kirche sehr hilfreich. Wenn ich mir das gedanklich vorstelle, wenn ich mich vor der Marienkirche imaginiere, geht mir schon das Herz auf. Erst recht, wenn ich dann Richtung Schloß blicke.


    Ich zumindest möchte auch interessante Berliner Lösungen, die sowohl moderne als auch historische Kontexte berücksichtigen. Das Ausblenden der historischen Kontexte ist genauso weltfremd wie Dein imaginierter und in der Realität nicht vorhandener Vergangenheits-Extremismus.

  • "Heimatgefühle"

    ^ btgl. #1518, #1521 und #1525...


    Also da muss ich Chandler absolut recht geben. Wenn ich mir tel33s schönes Schrägluftbild abschaue, kriege ich alles mögliche, aber bestimmt keine Heimatgefühle. Wer wie unser Echter Berliner "in Gedanken den alten Potsdamer und Leipziger Platz vor sich sieht" hat meinetwegen irgendwelche traditionalistische oder sonstige Gefühle, aber "Heimatgefühle"? Ich habe Heimatgefühle an Orten meiner Kindheit oder Jugend, nicht bei irgendwelchen Fotos von längst vergangenen Zeiten, zu denen ich keinerlei eigenen Bezug habe.


    Wie auch immer, wenn ich sowas wie das bekannte Bild in teils Beitrag sehen will, fahre ich nach Brandenburg an der Havel, Wittstock oder Templin. Es ist lange vorbei und man kann die Zerstörung und Veränderung der Berliner Innenstadt seit 1939 betrauern wie man will, der Vorkriegszustand wird nie wieder kommen. Dass man bestimmte bedeutende Bauwerke rekonstruiert und einzelne Stadträume verdichtet, ist okay und wird ja z. T. schon gemacht, auch wenn das Ergebnis nicht immer überzeugen kann.


    Zudem verbreiten solche historischen Schwarzweiß- bzw. Sepia-Bilder oft ein nostalgisch-verklärtes Bild. Schaut man sich andere Detailbilder aus der Zeit oder liest mal zeitgenössische Beschreibungen, sieht es oft weniger idyllisch aus.


    Zum Beispiel die Fischerinsel, wo der Abriss eines ganzen Quartiers durch die böse DDR ja gern gegeißelt wird und sicher auch diskutiert werden kann. Da gibt es idyllisch anmutende Fotos mit putzigen kleinen Häusern und schmalen Gassen des 18. JH am Wasser, bei denen einem die heutigen Plattenwohnhäuser furchtbar vorkommen. Aber es gibt ebenso die Fotos, die eine andere Realität zeigen von runtergekommenen dreckigen engen Gassen mit feuchten siffigen halbverfallen Bruchbuden, wenig Luft, Licht und Grün, Pferdemist in den Straßen und ärmlich gekleideten Menschen. Da sehe ich die heutige Fischerinsel mit ganz anderen Augen.


    Würde man das Rathausforum zubauen mit irgendwelchen mehr oder weniger gelungenen historisierenden Gebäuden, teils Reko, teils modern, teils hybrid, teils sonstwie, und die großen Nachkriegs-Gebäude wie die Rathauspassagen usw. abreißen, würden sicher viele Menschen den verlorenen Freiräumen und der großzügigen Bebauung nachtrauern, die trotz aller Mängel großstädtischer wirkt als eine wiederentstandene Kleinstadtkulisse des 17. bis 19. JH.

  • Muss man denn schon wieder jedes Wort auf die Goldwaage legen? Na, dann nennt man es eben "Nostalgie zweiten Grades". "Man" (wer auch immer das ist) war in der Spandauer Vorstadt. Dann kommt man zum RF/MEF...und denkt sich "Hach, hier war das auch mal so. Schade drum. Hätte ich gern mal gesehen" - und dreht am liebsten wieder um, weil "man" eben das andere besser findet. Man kann sich ja auch denken "Hach, hätte ich (=RF/MEF) gern ein Kind gehabt", wenn man inzwischen 60 ist und keins hat. Man hat zwar selbst diese Erfahrung nicht gemacht, kennt es aber aus seinem Umfeld (=SV). Für andere wiederum gäbe es wohl nichts schlimmeres, als Kinder gehabt zu haben. Hätte schließlich zu viel Stress (laute, volle, verkehrsreiche Straßen) und Einschränkungen (enge Straßen) bedeutet. Nur, dass es in der Realität vielleicht so wäre, dass die Leute mit Kind die Stille der Reihenhaussiedlung bevorzugen, und die Kinderlosen das wilde Leben der Innenstadt. Ist doch nicht so schwer zu verstehen, wenn vielleicht auch für den Andersdenkenden nicht nachvollziehbar.


    Was haben die schlechten Zustände von damals mit denen von heute zu tun? Diese runtergekommenen Gassen gab es auch in dem einstigen Ghetto namens Spandauer Vorstadt. Heute ist die Gegend sehr beliebt; höchste Gallerien-Dichte der Stadt in der Augustdtraße, blabla...Und so ist es (mehr oder weniger) auch mit anderen Altstädten, wo in den einst mit Cholera und Pest verseuchten Gassen mit schmalen, engen Fachwerkhäusern heute das Leben sprudelt, seis touristisch oder auch gastronomisch. So wäre es auch auf der Fischerinsel. Vielleicht wäre es nicht so stark vom Nachtleben geprägt, aber die Häuer wären (wie ja auf der anderen Seite des Kanals) alle saniert und populäre Wohnobjekte à la Friedrichswerder. Ist ja in Kreuzberg, mit den bösen Mietskasernen, auch so. Heute ist das alles sehr populär, weils ist wie es ist. Man weiß es vielleicht, aber "Alda! Ich wohne in Kreuzberg! Ich bin cool!".


    Wenn man schon immer damit argumentiert, dass wir ja nicht mehr 1900 leben, sondern in den 2010ern, dann sollte man auch so konsequent sein, und nicht vor den seinerzeit von Zille geschilderten Zuständen, die heutige Popularität derselben Orte (sofern sie noch bestehen) ausblenden. Ein neu zugebautes RF/MEF würde das in der Tat nicht zu 100% bieten können. Aber hätte man die Strukturen erhalten, wäre es sicher so gewesen...Und würde man es wagen, dann wäre dieses Areal in 50 Jahren vielleicht auch sehr populär.

    8 Mal editiert, zuletzt von Ben ()


  • Wir haben das Jahr 2013, die Stadt ist heute wie sie ist als Resultat ihrer Borderline-Geschichte der letzten 100 Jahre (und nur dieses Berlin dieser letzten 100 Jahre wird weltweit als das eigentliche, schaurig-interessante Faszinosum wahrgenommen, die altpreußische Mottenkiste davor juckt doch nur ein paar Lokalhistoriker).


    Nein, das Areal über das wir hier reden, ist einzig das Resultat eines sehr kurzen Zeitabschnitts der totalen, mutwilligen Zerstörung und keinesfalls Ausdruck irgendeines fortlaufenden historischen Prozesses. Dies gilt es zu erkennen und entsprechend zu korrigieren. Ich denke 70 Jahre nach Kriegsende darf man diesen Anspruch endlich auch Berlin zugestehen. Die Stadt muss nicht bis zum Sanktnimmerleinstag als Kriegsbrache konserviert werden.



    Dann doch lieber die leicht größenwahnsinnig-futuristische Grandezza der sozialistischen Tuilerien mit dem Fernsehturm als Ausrufezeichen, so etwas gibt es anderswo nicht und wegen dieser Einzigartigkeit (und noch so ein paar anderen Kaputtheiten dieser Stadt) kommen die Leute hierher


    Die Leute kommen ganz gewiss nicht, um die Einöde (bzw. Baustelleneinrichtung) zwischen Spree und Alexanderplatz zu bestaunen, oder auf versifften Betonbänken zwischen Dunkin Donuts und KFC Fertigkaffee aus Plastikbechern zu schlürfen. Diese 'Einzigartigkeit' dürfte wohl niemanden extra nach Berlin locken.

  • @ Ben: Kann man natürlich so und so sehen und mehr wollte ich auch nicht sagen.


    Wären Fischerinsel und die Berliner Stadtmitte im Bereich des heutigen Rathausforums heute noch erhalten, wären sie wahrscheinlich ähnlich adrett und attraktiv wie die Spandauer Vorstadt. Nur diese ist aber im Krieg und zu DDR-Zeiten weitgehend erhalten geblieben, die anderen beiden Areale nun einmal nicht.


    Anstatt immer nur dem Vergangenen nachzutrauern, kann man doch einfach mal die Vorteile der heutigen Situation sehen. Natürlich gibt es beim RF Verbesserungbedarf, aber die Grundstruktur ist m. E. okay. Wäre alles etwas sauberer und gepflegter, sähe es dort schon ganz anders aus. Und die heutige Fischerinsel finde ich durchaus passabel. Ihre Stärken liegen natürlich nicht in einer historischen Bebauung mit verwinkelten Gassen, dafür ist sie eine grüne parkartige Oase mit schöner Wasserlage und speziell in den oberen Etagen der Plattentürme lebt es sich vermutlich nicht schlechter als in einer durchschnittlichen Wohnung in der Spandauer Vorstadt.


    Und was eine nachträgliche Verdichtung schnell mal an architektonischem Müll hervorbringen kann, sieht man ja an der Ecke Gertraudenstraße/Fischerinsel.

  • Wie wäre es mit der Rekonstruktion einiger Fischerhütten an der Spree? Oder dem einen oder anderen Siedlerhäuschen aus Holz und Stroh? Oder einem mittelalterlichen Reihenhaus. Daneben steht dann ein barockes Bürgerhaus, ein Gründerzeitler, ein Jugenstiler oder Jahrhundertwendler, ein 50er Jahrebau, ein Plattenbau und eine Berliner Lochfassade mit vertikal gegliederter Steinfassade wie sie in den letzten Jahren oft gebaut wurde und und und. Wäre ein lustiges Sammelsurium. Die Berliner Baugeschichte geht ja schließlich nicht von 18hundertannodazumal bis kurz vor 1945.


    Von dieser kleinen Polemik mal ab, hat sich an meiner Meinung (bin gerade zu faul die entsprechenden Beiträge in diesen Thread zu verlinken) nichts geändert.


    Wenn ich das Bild in tel33s Post sehe dann kommen mir beim Anblick dieser versiegelten Steinwüste keine nostalgischen Gefühle auf.
    Davon mal ab. Wenn wir von Rekonstruktion dieses Areals sprechen dann wohl rein von der des Straßenrasters; bestenfalls von einigen wenigen historischen Fassaden. Wahrscheinlich wäre jedoch, dass ein modernes Wohn- und Geschäftsviertel mit der gängigen Investorenarchitektur entstünde. Denn die Rekonstruktion historischer Fassaden wird man keinen Investor vorschreiben können.


    Die Stadt muss nicht bis zum Sanktnimmerleinstag als Kriegsbrache konserviert werden.


    Das kannst du noch so oft schreiben nur wird es m.M.n dadurch nicht richtiger. Das RF ist mitnichten eine Brache sondern eine Grünanlage mit Potential künftig noch besser die weitere städtische Versieglung als grüne Oase zu kompensieren. Mit dem Fernsehturm als dessen Zentrum aus meiner Sicht ein einzigartig gelungenes städtisches Ensemble.

  • Sehr schöner Kommentar von Bato, bleibt eigentlich nicht viel hinzu zu fügen.


    Zitat von Bato

    ...Wenn wir von Rekonstruktion dieses Areals sprechen dann wohl rein von der des Straßenrasters ...


    Dann müsste man diese Straßen allerdings breiter anlegen, denn die heute übliche Traufhöhe + Staffelgeschoß ist höher als die der vorgründerzeitlichen, historischen Bebauung. Sonst würde es sehr dunkel in den engen Straßen werden.


    Bei dem von Tel 33 gezeigtem Foto kommt bei mir auch keine Sehnsucht nach Wiederauferstehung hoch. Auch nicht,was das Straßenraster betrifft. Irgendwann wird man das Rathausforum schleifen, dann ergeben sich ganz andere Möglichkeiten.

  • Was kümmert es den Passanten, ob hinter hässlichen Fassaden traumhafte, luxuriöse Zustände herrschen oder wie die Aussicht aus selbigen sind? Das ist aber Sache der Architekten und Investoren. Ja, sicher ist die Aussicht aus dem 20.OG dieser Türme toll. 99% der Leute an solch zentralen Orten sehen das aber nicht, weil sie nicht in diesen Wohnungen leben, sondern sich nur in deren Umgebung aufhalten (oder auch nicht); die sehen das nicht. In den letzten drei Monaten, die ich in Marzahn-Hellersdorf verbracht habe, dachte ich mir auch immer mal, dass die Aussicht aus den Türmen sicher toll ist. Riesige Balkons, alles saniert...Aber wenn ich dann gesehen habe, wie es auf der Straße aussieht...Dann ziehe ich lieber in ne EG-Wohnung in der Innenstadt! Mal abgesehen davon, dass es auch Wohnungen im Hochparterre gibt, wo man diese Aussicht nicht hat. Die Wohnungen dieser Häuser sind Sache des Architekten, nicht des Stadtplaners (den wir hier ja eher spielen). Die Aufgabe der (admnistrativen) Stadtplanung liegt in der der Vorgabe von Traufhöhen, Geschosszahlen, Fassadenmaterialien, Grünflächenanteil, Brandschutzvorschriften usw.


    Parkähnlich oder Parkplatzähnlich? Parkähnlich ist es im o.g. Marzahn-Hellersdorf. Das war in dieser Hinsicht richtig schön. Wege durch helle, weitläufige, gepflegte Grünanlagen, Teiche usw. Grün- und Freiflächen sind wichtig. Die Fischerinsel ist dunkles, verwildertes Grünzeug mit unterwurzelten Bodenbelägen, außenliegenden Mülltonnenstell- und eben Parkplätzen. Dann doch lieber das MEF oder dem Köllnischen Park um die Ecke. Aber immer dieses krampfhafte Versuchen, jede Brache zu erhalten, weil dort 3 Bäume stehen, wo es doch 2 Straßen weiter eine richtige Parkanlage gibt...Grüne Flächen sind noch lange keine Grünflächen. Ein Park wäre (und ist) am öst. Zipfel der entstanden. Das würde auch reichen.


    Dass aus diesen Neubauprojekten zumeist Müll hervorging, ist nicht die Schuld der Verdichtung an sich, sondern der Halbherzigkeit, mit der Architekten und Stadtplanung diese betrieben haben. Andererseits, falls es eines Tages mal weitergeht und die solitäre Wirkung dadurch verwischt, vielleicht ists ja dann doch gar nicht soo schlimm.


    @Bato
    Ähm, ja...Im ganzen Thread gehts in erster Linie um angelehnte Strukturen, nicht um Fassaden. Und sicher kann man, wenn man wollte und sofern es überhaupt was rekonstrunstruktionswürdiges gäbe, Bauherren Fassadenrekos vorschreiben. Geht ja in Dresden und Frankfurt auch. Die Traufhöhe ist ebenso vorschreibbar, sodass man sie auch bei 10m ansetzen könnte, was wirtschaftlich natürlich keinen Sinn machen und alles nur um vieles erschweren würde und hier sicher auch nicht wert ist. Wir haben hier ja schließlich schon allerlei Vorschläge geliefert, wie es aussehen könnte, auch mit breiteren Straßen und Platz in der Mitte o.ä. Bestünde diese Steinwüste noch, wäre sie sicher nicht minder populär, wie die Spandauer Vorstadt, die wohl heutzutage in ihrer wieder verdichteten Form kaum einer missen möchte. Also soll man mal nicht so tun, als wäre das die Hölle in Stein. Würde man das Guggenheim von Bilbao auf das MEF stellen, gäbe es sicher weniger Gemäkel in der Öffentlichkeit, obwohl die Versiegelung noch größer wäre.

  • Also soll man mal nicht so tun, als wäre das die Hölle in Stein.


    Ähm, das habe ich auch nicht geschrieben. Ich habe allerdings oft genug betont, dass ich mit einer Bebauung des MEFs leben könnte. Nur beim RF – zwischen Fernsehturm und Spandauer Straße spreche ich mich gegen eine Bebauung aus. Wobei ich anspruchsvollen Flachbauten mit gastronomischer oder Kunstgalerienutzung durchaus etwas abgewinnen könnte.

    Ähm, ja...Im ganzen Thread gehts in erster Linie um angelehnte Strukturen, nicht um Fassaden.


    Manche Beiträge erwecken bei mir jedoch ebenjenen Eindruck.

    Bestünde diese Steinwüste noch, wäre sie sicher nicht minder populär, wie die Spandauer Vorstadt, die wohl heutzutage in ihrer wieder verdichteten Form kaum einer missen möchte.


    Das kann schon sein. Sie besteht nur leider eben nicht mehr. Dafür gibt's jedoch den Fernsehturm nebst Umfeld (die Plattenbauten mal außen vor gelassen). Das möchte ich heute auch nicht mehr missen.

  • Habe auch nicht gesagt, dass explizit du das gesagt hast. Hätte vielleicht einen Absatz einfügen sollen. Andere sagens jedoch bzw. tun so als wäre es so, obwohl sie es ebenso wenig kennen, wie die Nostalgiker. Verteufeln darf mans also, verherrlichen nicht.


    Ach, eine Bebauung des RF ist doch schon aufgrund der ganzen Winkel, die durch den Turm und die Stellung der Kirche entstehen eh unrealistisch und auch nicht wirklich nötig. Ich rede auch eigentlich immer nur vom MEF (sieht man ja schließlich auch auf den Bildern). Die Einfassung durch ein Bebautes MEF würde reichen, um aus dieser weiten Fläche des RF einen Platz zu machen. Vielleicht noch etwas Einfassendes in der südöstlichen Ecke, als Gegenstück zum Alea. Aber da täte es vielleicht auch einfach etwas "Halbflaches". Das würde die Fläche zwischen Rathaus und KLS noch mehr einfassen und die Kaskaden vielleicht auch mehr inszenieren, als jetzt...Sichtachsen und so...