Plattenbauten in Berlin
http://www.welt.de/data/2004/05/05/273436.html
Alles anzeigenHellersdorfer Barock
Der diskrete Charme des Sozialismus: Warum Plattenbauten hip sind
von Hendrik Werner
Dem Volksmund galten sie als "Arbeiterschließfächer", der Dramatiker Heiner Müller schmähte sie als "Fickzellen mit Fernheizung". Doch ungeachtet aller Anfeindungen und politischen Zeitläufte haben sich Plattenbauwohnungen auch nach der Wende und trotz etlicher Abriss- und Rückbaubegehrlichkeiten behauptet. Mehr noch: Als architektonische Relikte des real versagenden Sozialismus genießen sie mancherorts gar Kultstatus - auch unter Künstlern.
Nachdem ein Hellersdorfer Wohnungsbaugesellschaftsfunktionär vor zwei Jahren Sightseeing-Touren durch den einst verfemten Ostberliner Neubaugürtel anbot, schien es nur eine Frage der Zeit, bis die Platte für junge Leute konsensfähig, sprich: hip werden würde. Architekten, Maler und bildende Künstler entdeckten den diskreten Charme des Sozialismus, der in privilegierten Objekten gar für ateliertaugliche Maisonette-Mehrraumwohnungen gesorgt hatte. Etwa jene 50 Künstler, die im Herbst 2002 einen Hellersdorfer Elfgeschosser für drei Monate in einen ironisch dekorierten Happening-Wolkenkratzer ummodelten. Als dann anno 2002 auch noch eine so genannte Faltplatte auf den Markt kam, die Hobbybastlern in 400-facher Verkleinerung zwei besonders gängige Behausungstypen zum Ausschneiden und Zusammenleimen darbot, war ruchbar, dass es Schließfächer zu ostalgischen Ehren bringen können.
Jüngstes Beispiel für eine Meritenmehrung der tristen Hochhäuser, bei deren Anblick Westdeutsche den Geruch abgestandener Soljanka wahrzunehmen meinen, ist ein Fotoband aus dem Berliner Verlagshaus Nicolai. Darin zeigen die Szenebildnerinnen Susanne Hopf und Natalja Meier, wie viele Möglichkeiten es gibt, einen standardisierten Raum durch spezielles Interieur zu individualisieren. Ihr Anschauungsobjekt ist der P 2, der nichts mit einer Münchener Szenediskothek gemein hat. Zumal der "Plattenbau 2", ein 1962 entwickelter Typus des DDR-Wohnungsbaus, ohnedies zu wenig Platz bietet, als dass man ihn zur Tanzfläche umwidmen könnte.
Etwa eine Million DDR-Bürger musste sich mit dem eng bemessenen Raum dieses Wohnungstypus bescheiden, der selbst unter westdeutschen Reihenendhausbesitzern Beklemmungsgefühle auslöste, als sie seiner in Filmen wie "Halbe Treppe" und "Goodbye, Lenin!" angesichtig wurden. Trotz der räumlichen Beschränkung der Behausungen zeigen die Fotografien, die in Berliner Plattenbausiedlungen entstanden sind, welche fantasievollen Lebensentwürfe sich in einem 79-Quadratmeter-Biotop inszenieren lassen.
Hopf und Meier, die ihre Settings als Studie für Filmfachleute entwickelten, zeigen die Räume von je zwei Seiten - und bewusst ohne die in ihnen lebenden Personen (von denen man ohnedies glaubt, sich ein Bild machen zu können). Mal ist das Interieur karg, mal opulent, mal mutet es bohemehaft an, mal gemahnt es an Gelsenkirchener Barock, der nicht nur tief im Westen beheimatet war. Stets indes hat der gedoppelte Einblick in ein genormtes Allerheiligstes namens Wohnzimmer etwas Anrührendes, weil er intim ist und dem Betrachter einen Mikrokosmos eröffnet, der durchaus als Allegorie des jeweiligen Standesbewusstseins oder Materialismusgrades gelesen werden kann. Etwa wenn der Inhalt von zu Schreinen avancierten Vitrinen verrät, ob deren Besitzern kitschige Kristallbecher oder Klassikerwerkausgaben wichtig sind. Auch die Ausprägung des Sinnes für Ordnung und Symmetrie ist ruchbar. So belegen die Bilder sehr eindrucksvoll: Die Deutschen waren trotz der Teilung stets ein Volk: ein preußisch-pedantisches. Sei es im normierten Plattenbau in Hellersdorf oder im ebenso standardisierten Reihenendhaus in Gelsenkirchen. So lange man das Privileg genießt, überhaupt ein eigenes Schließfach zu haben, ist kein Behausungstyp ehrenrührig.