Das Relief der Judensau an der Wittenberger Stadtkirche

  • Der Streit währt schon länger. Heute hat nun der BGH in dritter Instanz entschieden, dass ein mittelalterliches Relief an der Stadtkirche in Wittenberg nicht entfernt werden muss, weil es als Mahnmal kontextualisiert ist. Damit wird der lang anhaltende Diskussion um Antisemitismus, Denkmalschutz und Bildersturm sicher noch nicht beendet sein. Ich hatte mich bereits vor drei Jahren in dieser Sache eindeutig positioniert:


    Ist die Darstellung auf einem Relief in mehreren Metern Höhe eines mittelalterlichen Kirchenbaus wirklich geeignet, Antisemitismus in unserer Gesellschaft zu fördern? Diese Vorstellung fällt mir schwer. Entscheidend ist der Adressat der Botschaft. In Wittenberg und zahlreichen weiteren historischen Beispielen sind es weder die Juden, noch die Antisemiten von heute. Letztere werden zudem in ihrer überwiegenden Mehrheit gar nicht den Horizont besitzen, das Gesehene dahingehend zu interpretieren. Im Übrigen gedenkt man vor Ort mit einer Bodentafel dem Holocaust. Eine Tafel, die den Kontext der Darstellung erläutert, ist im Gespräch.


    Antisemitismus ist eine furchtbare Geißel, die im letzten Jahrhundert in die denkbar schlimmste Katastrophe führte. Die Nachwirkungen flammen auch heute immer wieder auf. Doch wir bekämpfen sie nicht, indem wir in ahistorischer Weise unsere Kulturdenkmäler in Frage stellen und sie verstümmeln. Der kritische Umgang mit der eigenen Geschichte darf nicht zur Beschneidung derselbigen führen. Die Judensau von Wittenberg ist ein Nebenkriegsschauplatz, der von den dringenden Problemen in diesem Land ablenkt. Es wäre klug, wenn wir dem heutigen Antisemitismus auf andere Weise die Stirn bieten. Diskussionen und Gerichtsverhandlungen um mittelalterliche Kunst sind dafür nicht geeignet.

    Weiter: https://www.zeilenabstand.net/die-judensau-von-wittenberg/


    Vielleicht kann ich hier eine Diskussion zu dieser wichtigen Kontroverse anstoßen.

  • Die Pressemitteilung des BGH vom heutigen Tage gibt ausführlich Auskunft über den Verfahrensgang und die Urteilsgründe; am Ende auch einen Link auf den Volltext des Urteils vom 14. Juni 2022 - VI ZR 172/20 .


    Im Prinzip sei das inkriminierte Relief rechtsverletzend, jedoch sei der bis zum 11. November 1988 bestehenden rechtsverletzende Zustand dadurch beseitigt worden, dass unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte mit der oben dargestellten Inschrift enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift "Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg" angebracht wurde, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert. Aus der maßgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters hat die Beklagte das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief - das "Schandmal" - in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage - wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt - distanziert.

  • Das Relief regt zum Nachdenken über dem Umgang der gesellschaftlichen Mehrheit mit Minderheiten an. Es ist ein authentisches Zeugnis seiner Zeit. Entsprechend wäre es m.M. nach eben gerade nicht zielführend, es zu entfernen.

  • Das Relief sollte entfernt und ggf. in einem passenden Museum aufbewahrt werden. Was früher möglich war, muss heute nicht zwangsläufig möglich sein.

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    Dann heißt das aber, dass alle ähnlichen Darstellungen, die eine Religionen verspotten, ebenfalls entfernt gehören. Das bleibt ja nicht auf die zahlreichen Judensau-Darstellungen beschränkt. Und wo machen wir da eine Grenze? Reißen wir Tympana heraus, verfrachten das Chorgestühl des Kölner Doms in ein Museum? Wie begründen wir einen solchen Bildersturm?

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    Das sollte jeweils im Einzelfall geprüft werden. Den aktuellen Zustand an der Wittenberger Stadtkirche finde ich nicht gut. Die Bodenplatte aus dem Jahr 1988 müsste zumindest um eine eindeutige Beschreibung und Einordnung des Reliefs ergänzt werden. Grundsätzlich kann ich aber auch mit einer Entfernung des Reliefs gut leben. Hatte bis 1989 in der Nähe Wittenbergs gelebt und in den 1990er Jahren auch für ein halbes Jahr dienstlich dort zu tun.


    einige Reaktionen:

    Evangelische Kirche reagierte auf das Urteil erleichtert (FAZ,15.07.2022, S. 4).

    Zentralrat der Juden in Deutschland: nachvollziehbares Urteil, jedoch Wunsch nach deutlicherer Positionierung (FAZ,15.07.2022, S. 1).

    Internationales Auschwitz-Komitee: enttäuschende Entscheidung (FAZ,15.07.2022, S. 1).

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    NZZ, 30.05.2022, Marc Felix Serrao, (Es fehle die eindeutige Erklärung. Solange das nicht erfolgt, solle das Relief abmontiert und in einem Museum untergebracht werden.)

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  • Die Begründung finde des Gerichts empfinde ich auch seltsam. Damit stehen ja alle eindeutig historischen Darstellungen unter einem Kommentierungszwang.

  • ^ Wieso alle? Nach dem Wortlaut der Entscheidung doch nur Hohn- und Spottbilder, die in der Absicht aufgestellt wurden, die jüdische Religion oder "die Juden" zu schmähen. Dieses Relief war schon bei seiner Erschaffung eine antisemistische, oder wie es das Gericht ausdrückt: antijudaistische, gegen Juden im Allgemeinen gerichtete Schmäplastik, da muss man nichts hineininterpretieren. Wenn die Entscheidung überhaupt einen, wie du es nennst: Kommentierungszwang auslöst, dann doch überhaupt nur in bezug auf die etwa fünfzig noch existierenden derartigen Bildwerke.