Leipzig: Vor der Zerstörung (Zeitraum von ca. 1890- 1941)

  • Um das Pro-Seminar an der Karl-Marx-Universität mal wieder zu verlassen: Die prekären Wohnverhältnisse Mitte und Ende des 19. sind in erster Linie auf das enorme Bevölkerungswachstum zurückzuführen. Die Industriezentren waren darüberhinaus noch einem enormen Zuzug ausgesetzt. Für diese

    Menschen musste erstmal Wohnraum geschaffen werden.

    Was da bis 1914 geleistet wurde, kann man durchaus als reife Leistung bezeichnen. Wir profitieren ja heute noch im erheblichen Maße davon. Nicht nur Gebäude, auch fast die gesamte großstädtische Infrastruktur wurde damals geschaffen. Die Wohnungsfrage ist darüberhinaus in Deutschland eigentlich erst in den 70er Jahren (Westen) wirklich gelöst gewesen, im Osten erst nach 1990. Also auch die Abkehr von aufwendigen Baustilen des Historismus nach 1918 und der Beginn der Moderne hat trotz deutlich geringerem Bevölkerungswachstum hierzulande nur punktuelle Abhilfe schaffen können. Darüber sollten die gefeierten Siedlungen des "Neuen Bauens" nicht hinwegtäuschen. Das waren immer noch viel zu wenige.

    Wenn man sich das heutige Desaster im Wohnungsbau, in der Digitalisierung etc. anschaut, da muss man vor den Leistungen Ende des 19., Anfang des 20. Jhds. um so größeren Respekt haben. Ich habe ernste Zweifel, dass wir die Herausforderungen denen man sich damals stellen musste, heute ähnlich bewältigen könnte.

  • Danke für die Aufklärung, so dass auch ich jetzt verstanden habe, dass architektonisch ansprechende Neubauten nur möglich sind, wenn kapitalistische Ausbeuter Häuser ohne Fenster und sanitäre Einrichtungen bauen dürfen, in denen drei Familien im Acht-Stunden-Rhythmus jeweils ein einziges Zimmer im Wechsel bewohnen, und die durch den Export von Sklaven aus deutschen Kolonien finanziert werden. Das kann natürlich niemand wollen, da werde ich mich zukünftig über jeden weißen Quader freuen. Falls doch irgendwo Sockel, Simse oder gar Stuck verbaut werden, entlarvt sich das Kapitalistenschwein von selbst.

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    Mir ging es um die Skizzierung zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Strukturen. Das hat nichts mit Karl Marx oder Kapitalismus-Kritik zu tun, sondern mit der Unvergleichbarkeit zweier Epochen. Also genau das Genteil von dem was Sie tun, lguenth1.

    Strukturen heißt: Architektonischer Historismus und politischer Imperialismus gehen Hand in Hand. Die Formsprache passte zur Weltanschauung; die Mittel, woher auch immer, waren da; zum Zweck reichte es.


    Ich habe nie behauptet alle moderne Architektur sei schön und hinter einfallslosen Fassaden mit Wohnungen im Luxussegment schlummert die finale Lösung, die Utopie und die Befreiung aller Völker. ;) Vielmehr sollte man sich die aktuelle (wie auch geschichtliche) Strukturen vor Augen halten, anstatt auf einem Auge blind mit Wehmut an die gute alte (Architektur)Zeit zu erinnern und Besucher/innen in Bögen um moderne Architektur durch die Stadt zu führen... Wir ärgern uns ja heute auch nicht mehr, dass 1890 nicht mehr im Barock gebaut wurden ist. Ich sehe diese, in meinen Augen, Verklärung einfach kritisch, denn damit wird man den kommenden Herausforderungen der Stadtplanung nicht gewachsen sein.

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    ...Strukturen heißt: Architektonischer Historismus und politischer Imperialismus gehen Hand in Hand. Die Formsprache passte zur Weltanschauung; die Mittel, woher auch immer, waren da; zum Zweck reichte es...

    Zu dieser Aussage lassen sich ausreichend Gegenbeispiele finden, wie Bauten der Sowjetzeit, reich verzierte rustikale Bauten des Kleinbauerntums, jegliche eklektizistische Einzelbauten (Palais Ideal), etc. ... Der Historismus hat als Epoche auch in Ländern ohne Imperiale Ambitionen stattgefunden und sich in fast alle Bau/Lebenbereiche verbreitet.


    Desweiteren haben gerade im Deutschland dieser Zeit, soziale Reformen stattgefunden, welche von konservativer Seite (Bismarck) trotz Sozialisten Gesetz etc. nicht zu erwarten waren. Hier kann man den rheinischen Kapitalismus von den angelsächsichen Entwicklungen unterscheiden. Die ML - Lehre differenziert ihr Feindbild jedoch bewusst nicht. (Bitte nicht die ML Lehre der DDR mit Marx Erkenntnissen im Kapital gleichsetzen)


    Die Architektur einer Zeit ist auch Ausdruck der aktuellen architektonischen Mode (Epoche) und gerade in jüngerer Zeit einer Schule. Insbesondere in Deutschland sind durch die selbstverschuldeten Disruptionen unserer Geschichte, teilweise Strömung/Schulen/Lehrmeinungen einer Schule stärker vertreten als in anderen Ländern.

  • Manchmal frage ich mich, wem die äußere Ästhetik eines Gebäudes eigentlich gefallen soll - ergo dienlich sein soll. Nach meinem Verständnis sollte das doch die Mehrheit der Bürgerschaft sein, oder? Man hält Architekturwettbewerbe ab, in denen eine Jury eine Entscheidung fällt. Die sitzt da aber nicht stellvertretend für die Menschen draußen. Der allergrößten Teil dieser schüttelt zumeist mit dem Kopf, wenn er an dem fertigen Objekt vorbeiläuft: Es gefällt zumeist nicht. Beispiel Leipzig: Die Gründerzeitviertel waren nach der Wiedervereinigung die ersten sanierten Wohnungen, die sehr gut vermietet waren, eben nicht die Plattenbauviertel, und das ist bis heute so, obwohl vom Sanierungskomfort gleich. Also warum baut man nicht so, wie es den Bürgern gefällt oder naiv gefragt: Warum lässt man diese nicht mitvoten bei den Entwürfen? Es ist doch deren Stadt. Direkte Demokratie im ganz Kleinen ;)

    Vielmehr sollte man sich die aktuelle (wie auch geschichtliche) Strukturen vor Augen halten, anstatt auf einem Auge blind mit Wehmut an die gute alte (Architektur)Zeit zu erinnern und Besucher/innen in Bögen um moderne Architektur durch die Stadt zu führen... Wir ärgern uns ja heute auch nicht mehr, dass 1890 nicht mehr im Barock gebaut wurden ist.

    Warum sollte man? Wir haben doch heute eigentlich alle Möglichkeiten zu bauen.


    Darüber hinaus ist der Schnitt zwischen dem Barock und dem sich anschließenden Rococo bzw. den nachfolgenden nicht derselbe, wie jener nach dem Kriege. Aus nachvollziehbaren Gründen hat man eher Zweckbauten errichtet. Davon sollte man aber auch mal wieder abkehren und wieder mit mehr Liebe zum Detail bauen.


    Im Übrigen sieht man am Beispiel "Meyer´sche Häuser" doch ganz gut, dass die ersten jemals gebauten Sozialwohnungen auch mit viel "Beiwerk" gebaut wurden, damals bestehender Wohnungsnot.

  • ...Zu dieser Aussage lassen sich ausreichend Gegenbeispiele finden, wie Bauten der Sowjetzeit, reich verzierte rustikale Bauten des Kleinbauerntums, jegliche eklektizistische Einzelbauten (Palais Ideal), etc. ... Der Historismus hat als Epoche auch in Ländern ohne Imperiale Ambitionen stattgefunden und sich in fast alle Bau/Lebenbereiche verbreitet...

    Also ich erinnere das so: Die Sowjetunion ist als imperiale Großmacht 1991 untergegangen. Damit war auch das letzte Kolonialreich untergegangen. Naja wenigstens in den Randbereichen... OT end.

  • Ok, ich machs mal kleinlich, Luxemburgs imperiale Ambitionen (oder besser die der Luxemburger 1308-1437) sind schon länger her. Trotzdem haben sie Bauten des Historismus. Ich suche noch nach Kolonien derer, auch für "L" muss doch was zu finden sein ... ;) Dort?

    ( ... Mir ist klar das "L" so gebaut hat wie die Imperien Links und rechts ihrer Grenzen. Ein Grenzfall wäre Belgien, da deren Kolonien zunächst nur dem König gehörten, nicht Belgien. Spanien wird als Imperialist bei den "Imperien" des Fin de Siécle gar nicht aufgeführt ? [trotz Marokkos, Sahara, Werstafrika. etc ? Was muss man noch tun um Imperialist zu sein?] ... historisiert gebaut haben derzeit [fast] alle)

    Ich persönlich verfüge leider auch nicht mehr über Kolonien, strebe das aber an und werde dann historistisch bauen, selbst wenns mir nicht immer gefällt. "Watt mutt dat mutt".