Die gründerzeitlichen Mietskasernen - die ja den Standardtypus gründerzeitlicher Architketur darstellen und sicher 90% aller erhaltenen Bauten dieser Epoche stellen, auch das erste sind, was jedem bei "Gründerzeitarchitektur" in den Sinn kommt - zeigen die entsetzliche Geistesarmut und Geschmacklosigkeit dieser Zeit natürlich am Krassesten, aber ich kann nicht umhin, die architektonische Epoche insgesamt, auch in ihrern qualitätvolleren Solitärbauten, als eine Art einzige stilistische Entgleisung zu betrachten. Es dürfte keine andere Epoche gegeben haben, die so überhaupt nichts Eigenes zu sagen hatte und sich ausschließlich mittels eklektizistischen, wahllosen Zusammenschmeißens von aus dem Kontext gerissenen pittoresken Einzelelementen vergangener Epochen ausdrückte, und das noch dazu fast ausnahmslos nicht einmal in Form gelungener, stilreiner Kopien, sondern in der protzigsten, aufgeblasensten, hohlsten und geschmacklosesten denkbaren Form. Alles in allem aber ein passender Ausdruck für eine Gesellschaft, deren typische Repräsentanten der Finanzspekulant und der reaktionäre Kleinbürger waren.
Solche Beschimpfungsorgien, mit der ihnen innewohnenden Selbsterhöhung, sind schon schwer zu ertragen. Auch wenn sie entfernt an Thomas Bernhard erinnern (allerdings fehlt hier die ironische Brechung).
Wenn die Leistungen einer ganzen Epoche und damit natürlich auch ihre erhelblichen Hinterlassenschaften in allen deutschen Städten, die dazu noch heute sehr beliebt sind, abgeurteilt werden, zeugt dass von erheblicher Arroganz. Das trifft Berlin natürlich insbeondere und als ganzes und entspricht dem Denken, dass zur Folge hatte, dass in Ost wie West nach dem Krieg im großen Stil Stadtzerstörung begangen wurde, die heute sicher die meisten Berliner bedauern.
Natürlich waren die gründerzeitlichen Mietskasernen Massenware. Es bestand nicht der Anspruch Baukunstwerke zu schaffen und der spekulative Wert stand beim Bau im Vordergrund. Um so erstaunlicher ist es, dass auf diese Weise dauerhaft lebendige, beliebte und sogar schöne Stadtquartiere geschaffen worden sind. Am besten kann man das heute im schönen Prenzlauer Berg um den Kollwitzplatz betrachten, einem alten Arbeiterbezirk. Aber natürlich auch in allen anderen Bezirken des wilhelminischen Gürtels. Wahrscheinlich entspringt die Wut gegen die Gründerzeit der Hilflosigkeit gegenüber der heutigen Architektur, der so etwas nicht gelingen mag (siehe Dubai, Peking, Singapore etc...).